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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 15.1924

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Heynicke, Kurt: Legende von der unbefleckten Empfängnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.47214#0153

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DER STURM/DRITTES VIERTELJAHRHEFT

Legende
von der unbefleckten Empfängnis
Die Dämmerung schlägt ihre schattigen Flügel über die Stadt. Straßen, Häuser
und Pflasterbäume verschleiern sich im scheidenden Lichte des Tags. Es
ist Feierabend, und Fine sitzt am Fenster ihres Altmädchenzimmers, seit Jahren an
jedem Ende ihres sommerlichen Werktags. Am jenseitigen Straßenrand beginnt der
Park, der mit seinen hohen Kastanien und breitästigen Linden ein Gewirr ver-
schlungener Wege beschattet. Auf ihnen erwacht mit der Dunkelheit ein eigenes
und flüsterndes Leben.
Die dünnen Strahlen der Gaslaternen geben der Lauscherin Kunde von Wandel und
Gestalt der Liebenden da unten, denn Fine vermag von ihrem Fenster aus bis in das
Herz des Parkes zu sehen.
Des Mädchens Sehnsucht geht lautlos unter den nächtigen Bäumen, sie selber ist nie
dabei. Nun hat sie das dreißigste Jahr ihres Lebens durchschritten und ihr graut vor
der Leere eines ausgebrannten und von. keinem Leidenschaftsgewitter erzitternden
Daseinssommer.
Wenn Fine nach Mitternacht das Fenster schließt, hat ihre Seele alle Jugend auf-
gesogen, die aus dem liebenden Volk im Park aufwärtssteigt in die schwebenden
Sommerlüfte.
Sie atmet, glücklich und erwartungsvoll und glaubt, daß ein schöner Mensch jetzt
durch die Türe gehen und sie in den Arm nehmen müsse.
Aber die Zeit geht hin, aus dem Frühling steigt der Sommer. Die Blumen auf den
Beeten glühen und verwelken. Gärtner graben sie aus und setzen neue, auch diese
entfalten sich und gehen bunt auf. An den Bäumen füllen sich die Blätter grüner
mit Saft. Die Linden haben abgeblüht und die Kastanien sind nahe der Frucht. So
wird es hoher Sommer.
Nie hat der ewig gleiche Gang des Jahres Fine so erregt wie zu dieser Zeit. Namenlose
Angst ergreift sie. Mit Not ward ihr Leben geschlagen, ihr Frühling ist verblüht, der
Sommer verspricht keine Frucht. Sie fragt Gott in vielen Gebeten, es kommt keine
Antwort. Fine sucht ihn immer und immer in den Kirchen.
Die Stille, die in manchen Stunden unter den hohen Säulenbogen liegt, gibt dem
Mädchen Ruhe ins Herz und mit einer feinen Trostwehmut beladen geht Fine nach
Hause.

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