DER STURM/DRITTES VIERTELJAHRHEFT
Also vernimmt Fine wortlos alles in sich mit offener innerer Zukunft, aber sie bleibt
am hellsten haften am verheißenen Beginn, und als sie auf die Straße schreitet, aus
dem Dom, in dem die Flamme erloschen ist und wieder geschrumpft zum einfachen
Marienlicht, sehen sich die Leute um nach ihr und denken: „Welch ein schönes Weib!“
Nun geht Fine durch den Park, an dessen anderem Ende ihre Wohnung liegt. Eine
satte Müdigkeit beladet ihre Glieder, sie setzt sich auf eine Bank und vergißt die Zeit.
Über ihr geht die Nacht durch die Blätter. Sträucher schwanken, von leisem Winde
gestoßen. Das Mädchen schließt die Augen. Alles wird still, auch die Stadt legt
sich nieder.
Sie fühlt den Wind, er läuft wie Menschenatem über ihre Stirn. Sie öffnet die Augen
und will heimwärts schreiten. Aber da ist es nicht Wind ihr vor dem Antlitz, sondern
eines Mannes Gesicht, der sich über sie beugt.
Und es ist Fine, als sie halb erschrocken, halb freudig über den schönen jungen
Menschen sieht, als weiteten hinter ihm sich die blauen Dunkelheiten der Nacht und
Maria sähe hervor aus dem Gezweige der Sträucher. Da legt Fine Kray ohne Zögern
ihre Hand in die des Mannes und folgt ihm unbesonnen.
Jetzt nun kommt der hohe Sommer, des Lebens höchste Zeit. Nicht mehr sitzt das
Mädchen am abendlichen Fenster. Nun ist sie selbst eine der Entflohenen aus Miet-
hausenge in das Stundenland einer Liebe, und sie ist glücklich.
Sie lebt ihr Leben so stark, daß sie von dem Mann nur nimmt und nimmt. Sie ist
viel zu erfüllt von all dem Starken um sich, daß sie die Ferne und unendliche Weite
in des Mannes schwingendem Antlitz nicht erkennt. Dies aber ist nicht menschennahe
an ihm, es scheint dem Himmel anzugehören. Schon ist das Laub bunt geworden,
golden geht ein Gürtel übers Gefild. An einem Feiertag, als Mann und Weib vom
Berg vor der Stadt in die holde Buntheit blicken und das Auge weiden an dem schönsten
Tod der Natur, regt sichs in Fine zum ersten Male zwischen den Hüften und ihr Herz
tut einen schweren Seufzer. Der geht über die Lippen und spricht zu dem Mann.
Da tritt in dessen Auge jenes Übersichtige, sie gewahrt es zum ersten Male, und ihr
ist, als sähe es durch sie hindurch, bis an den Horizont, ja abwärts, den Himmel
durchdringend in Urweiten, da Menschensinn nicht mehr hinreicht.
Nun nimmt er ihre Hand wie einstmals im Park: „Komm. Wir wollen beten.“ Sie
schreiten mitsammen durch menschenvolle und lärmtolle Sonntagsstraßen, in die Stille
jener Kirche. Maria steht auf dem Altar wie an dem Abend vor drei Monden.
Schwere fällt aus den Säulenhallen, drückt nieder zur Andacht, und beugt in die Kniee.
Orgelklang dröhnt, aber aus Unwirklichkeit.
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Also vernimmt Fine wortlos alles in sich mit offener innerer Zukunft, aber sie bleibt
am hellsten haften am verheißenen Beginn, und als sie auf die Straße schreitet, aus
dem Dom, in dem die Flamme erloschen ist und wieder geschrumpft zum einfachen
Marienlicht, sehen sich die Leute um nach ihr und denken: „Welch ein schönes Weib!“
Nun geht Fine durch den Park, an dessen anderem Ende ihre Wohnung liegt. Eine
satte Müdigkeit beladet ihre Glieder, sie setzt sich auf eine Bank und vergißt die Zeit.
Über ihr geht die Nacht durch die Blätter. Sträucher schwanken, von leisem Winde
gestoßen. Das Mädchen schließt die Augen. Alles wird still, auch die Stadt legt
sich nieder.
Sie fühlt den Wind, er läuft wie Menschenatem über ihre Stirn. Sie öffnet die Augen
und will heimwärts schreiten. Aber da ist es nicht Wind ihr vor dem Antlitz, sondern
eines Mannes Gesicht, der sich über sie beugt.
Und es ist Fine, als sie halb erschrocken, halb freudig über den schönen jungen
Menschen sieht, als weiteten hinter ihm sich die blauen Dunkelheiten der Nacht und
Maria sähe hervor aus dem Gezweige der Sträucher. Da legt Fine Kray ohne Zögern
ihre Hand in die des Mannes und folgt ihm unbesonnen.
Jetzt nun kommt der hohe Sommer, des Lebens höchste Zeit. Nicht mehr sitzt das
Mädchen am abendlichen Fenster. Nun ist sie selbst eine der Entflohenen aus Miet-
hausenge in das Stundenland einer Liebe, und sie ist glücklich.
Sie lebt ihr Leben so stark, daß sie von dem Mann nur nimmt und nimmt. Sie ist
viel zu erfüllt von all dem Starken um sich, daß sie die Ferne und unendliche Weite
in des Mannes schwingendem Antlitz nicht erkennt. Dies aber ist nicht menschennahe
an ihm, es scheint dem Himmel anzugehören. Schon ist das Laub bunt geworden,
golden geht ein Gürtel übers Gefild. An einem Feiertag, als Mann und Weib vom
Berg vor der Stadt in die holde Buntheit blicken und das Auge weiden an dem schönsten
Tod der Natur, regt sichs in Fine zum ersten Male zwischen den Hüften und ihr Herz
tut einen schweren Seufzer. Der geht über die Lippen und spricht zu dem Mann.
Da tritt in dessen Auge jenes Übersichtige, sie gewahrt es zum ersten Male, und ihr
ist, als sähe es durch sie hindurch, bis an den Horizont, ja abwärts, den Himmel
durchdringend in Urweiten, da Menschensinn nicht mehr hinreicht.
Nun nimmt er ihre Hand wie einstmals im Park: „Komm. Wir wollen beten.“ Sie
schreiten mitsammen durch menschenvolle und lärmtolle Sonntagsstraßen, in die Stille
jener Kirche. Maria steht auf dem Altar wie an dem Abend vor drei Monden.
Schwere fällt aus den Säulenhallen, drückt nieder zur Andacht, und beugt in die Kniee.
Orgelklang dröhnt, aber aus Unwirklichkeit.
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