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Erster Theil. Die Zeit des Orients.

Poesie keine pedantischen Fesseln anlegen; die angedeuteten Pflanzenformen sind immer nur
Metaphern, und jedes Gleichniss hinkt. Bald glaubt man nur den Kelch oder die Knospe Einer
Blume zu sehen, bald einen Blumenstrauss oder ein Papyrusdickicht. Ein Motiv umgebundener

Bänder tritt am Säulenhals auf; die freien Band-


Fig. 5. Knospenkapitell Tuthmosis’ III.
Nach Photographie von A. Bonflls,

enden hängen am Schaft herab (Fig. 5); das fest-
liche Umbinden der Tragpfeiler mit Blumen mag
die Phantasie der Bildner mitbefruchtet haben.
Die andere Heimat der Kunst war West-
asien,1) insbesondere das Stromgebiet des Eu-
phrat. Im Stromland wie in Syrien herrscht
das semitische Element vor. Im Unterland des
Euphrat aber, in Chaldäa, von wo die westasia-
tische Hochcultur ihren Ausgang nahm, will
die Forschung eine Unterschicht vorsemitischer
Bevölkerung erkennen, die Sumerier, welche, aus
den Gebirgsländern Centralasiens eingewandert,
unter Anderem das werthvolle Besitzthum der
Schrift bereits mitgebracht hätten; überhaupt
seien sie als die Väter der chaldäischen Cultur
zu betrachten. Die zugewanderten Semiten
hätten nur nöthig gehabt, die fertig vorliegende
sumerisch-chaldäische Cultur sich anzueignen
und fortzubilden. Woher die Semiten nach dem
euphratischen Niederland kamen, ist noch nicht
ausgemacht; von dort aber haben sie sich aus-
gebreitet, wie südlich in das von den Sume-
riern besetzte Unterland, so Jahrhunderte später
nördlich in das mesopotamische Oberland, wo

sie im Tigrisgebiet unter dem Namen der Assyrer sich niederliessen, so auch früh westlich nach
Syrien, dessen Küste sie als Phönizier besiedelten.
Auf der Wanderung treffen wir die Sumerier zuerst, auf der Wanderung auch die Semiten.
Das Wanderleben ist für die Asiaten charakteristisch. Es handelt sich da nicht blos um ein-

malige Völkerverpflanzungen, sondern um die bleibende Gewohnheit des Nomadisirens; es
bildet den Untergrund der asiatischen Cultur, welcher, oft für lange Zeit verdeckt, immer wieder
an die Oberfläche getreten ist. Mögen sie Städte und Reiche gegründet haben, mögen die Städte
lange geblüht haben, sie sind gestürzt; aber das Zeltleben, für welches auch neben den Städten
immer Raum war, hat wieder obgesiegt. Und wenn die Semiten Schiffe bestiegen und von Insel
zu Insel, von Land zu Land sich locken liessen, so übertrugen sie das alte Lehen auf das neue
Element, das Zelt wurde zum Segel, sie wurden Nomaden zur See.
Ohne festen Wohnsitz wandern die Nomaden von Weide zu Weide; nur so lange weilen
sie an einer Station, bis das Gelände abgeweidet ist, bis der stärkere Nachbar sie verdrängt

]) G. Rawlinson, The live great inonarchies; Hommel, Geschichte Babyloniens und Assyriens.
 
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