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Taine, Hippolyte
Reise in Italien (2. Band): Florenz et Venedig — Leipzig: Eugen Diederichs, 1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.53634#0280
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DIE VENEZIANISCHE MALEREI

30. April 1864.
s wird mir schwerer, Dir von den venezianischen
Malern zu sprechen, als von den anderen. Vor ihren
Bildern hat man keine Lust, zu zergliedern und zu
urteilen, wenn man es tut, tut man es nur mit Ge-
walt. Die Augen geniessen, das ist alles: sie geniessen
wie die Augen der Venezianer des sechzehnten
Jahrhunderts, denn Venedig war keine literarische
oder kritische Stadt wie Florenz, die Malerei war
dort nur die Ergänzung der umgebenden Sinnenlust, der
Schmuck eines Festsaales oder eines Gemaches. Um sie
sich zu erklären, muss man sich in einige Entfernung bringen,
die Augen schliessen und warten, bis die Eindrücke sich
beruhigt haben, dann erst tut der Verstand, was seines
Amtes ist. Hier hast Du drei oder vier einführende Ge-
danken: über einen derartigen Gegenstand vermutet man
und deutet an, man schreibt nicht.
Venedig ist nicht nur eine besondere, von allen anderen
Städten Italiens verschiedene Stadt — von ihrem Ursprünge
an und dreizehnhundert Jahre lang frei — sondern Venedig
ist auch eine besondere, von allen anderen Italiens abwei-
chende Gegend mit einem eigenen Boden, einem eigenen
Himmel, einem eigenen Klima und einer eigenen Luft. Mit
 
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