Essays über Hygiene auf dem Lande
von George Vivian Poore, M.D., F. R. C. P.,
Verlag: Rud. Bechtold & Co., Wiesbaden, 1893.
Seite 1 In den Städten sind die hygienischen Einrichtungen mehr Ergebnisse der Notwendigkeit und
Verlegenheit als der Prinzipien, sehr oft werden sie im Widerspruch zu dem ausgeführt, was
die Wissenschaft lehrt. Man leistet der übervölkerung Vorschub und läßt es zu, daß die
Flüsse und anderen Bezugsquellen der Wasserversorgung verseucht werden, weil solche
Zustände „gut für das Geschäft“ sind oder dafür gehalten werden. Unsere städtischen
Behörden, die meistens dem Handelsstand angehören und die in der Mehrzahl keinerlei
wissenschaftliche Bildung besitzen, erwägen nur den ihnen vor allem wichtig erscheinenden
augenbliddichen Vorteil. Wenn eine sogenannte sanitäre Maßnahme für die nächste Zeit dem
Bezirk höheren Steuerwert in Aussidit stellt, so genügt das gewöhnlich, um sie anzunehmen.
Man madht dann rüdcsichtslos Anleihen, um das Geld für kostspielige und nur wenig über-
legte Einrichtungen aufzubringen, womit das sanitäre Werk wohl begonnen, selten aber
vollendet wird. Vielfach hat man in den Städten die hygienisdien Maßregeln eilfertig er-
griffen, weil man den Gefahren vorbeugen wollte, die durch das beklagenswerte Zusammen-
drängen der Bevölkerung entstehen. Es erinnert an die Art und Weise, wie Herkules mit
den Ställen des Königs Augias verfuhr. Obgleich wir aber des Herkules Heldentat bewundern
mögen, so verachten wir doch nur den Aqgias, der jedenfalls glüddicher und reicher gewesen
wäre, wenn er seine Ochsen rationeller gehalten hätte.
Die Lehre vom „gut für’s Geschäft“ (good for Trade) verträgt sich sdilecht mit gesunden sanitären
Maßregeln, weil Mr. „Gut für’s Geschäft“ Cwie Bunyan gesagt haben würde) sidi immer ab-
lehnend gegen die Vorschläge zur geringsten Verminderung der Massenbevölkerung verhält. Der
Handel liebt die großen Unternehmungen, zu denen das Geld geliehen werden mußte, und fragt
nicht viel nach dem Zwedr der Verwendung, wenn das Geld nur gegeben wird. Das unsere eng-
lischen Behörden diese fast unbegrenzte Macht besitzen, Anleihen zu madien, ist ohne Zweifel
insofern zu beklagen, weil sie sanitäre Autoritäten zu voreiligem Handeln ermutigen, während sie
sonst hätten langsam und vorsichtig vorgehen müssen und dabei Erfahrungen sammeln können.
Dem Mr. „Good for Trade“ fehlt es meistens nicht an Schlauheit, er merkt recht gut, wie
vorteilhaft umfassende sanitäre Einrichtungen für Grundbesitzer, Bauspekulanten, Aktionäre
von Wasserwerks-Gesellschaften, Lieferanten und eine Menge von Personen sind, die mit dem
Handel zu tun haben. Er versteht sich genau auf die verschiedenen Methoden, die Ortsbehörde
zu überlisten. (Bringing down the Local Government Board.) Wenn dann aber die Steuer-
zahler seufzen und klagen, so erwidert er darauf, daß die Ortsbehörde gegenüber dem, was
die Regierung anordnet, machtlos ist.
Seite 2 „Gott machte das Land und der Mensch machte die Stadt“, sagt der Diditer Couper.
Seite 3 Bei unsern modernen Verkehrsmitteln ist solches gefahrbringende Zusammendrängen von
Menschen sicher nicht nötig und man muß hoffen, daß noch vor Schluß des 19. Jahrhunderts die
Menschen nicht nur den Vorzug einsehen werden von rus in urbe, sondern auch von urbs in rure.
Man hört so oft Klagen über die Einförmigkeit in den ländlichen Bezirken, sollte aber doch
bedenken, daß unsere modernen Verkehrsmittel fast alle den Städten angehörenden soliden
Vorzüge auch den Dörfern erreichbar machen. Für wenig Geld kann selbst der im entlegensten
Dorf Wohnende, wenn sein Sinn danach steht, sich mit den neueren Ideen auf allen Gebieten
des Wissens bekannt machen. Die großen Städte werden eine von Tag zu Tag wachsende Gefahr
für das Land. Macht ist Recht, das gilt noch heute wie es von jeher galt, und es macht keinen
Untersdiied, ob die Bedrüdcung mit der Faust oder durch Wahlen ausgeübt wird.
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von George Vivian Poore, M.D., F. R. C. P.,
Verlag: Rud. Bechtold & Co., Wiesbaden, 1893.
Seite 1 In den Städten sind die hygienischen Einrichtungen mehr Ergebnisse der Notwendigkeit und
Verlegenheit als der Prinzipien, sehr oft werden sie im Widerspruch zu dem ausgeführt, was
die Wissenschaft lehrt. Man leistet der übervölkerung Vorschub und läßt es zu, daß die
Flüsse und anderen Bezugsquellen der Wasserversorgung verseucht werden, weil solche
Zustände „gut für das Geschäft“ sind oder dafür gehalten werden. Unsere städtischen
Behörden, die meistens dem Handelsstand angehören und die in der Mehrzahl keinerlei
wissenschaftliche Bildung besitzen, erwägen nur den ihnen vor allem wichtig erscheinenden
augenbliddichen Vorteil. Wenn eine sogenannte sanitäre Maßnahme für die nächste Zeit dem
Bezirk höheren Steuerwert in Aussidit stellt, so genügt das gewöhnlich, um sie anzunehmen.
Man madht dann rüdcsichtslos Anleihen, um das Geld für kostspielige und nur wenig über-
legte Einrichtungen aufzubringen, womit das sanitäre Werk wohl begonnen, selten aber
vollendet wird. Vielfach hat man in den Städten die hygienisdien Maßregeln eilfertig er-
griffen, weil man den Gefahren vorbeugen wollte, die durch das beklagenswerte Zusammen-
drängen der Bevölkerung entstehen. Es erinnert an die Art und Weise, wie Herkules mit
den Ställen des Königs Augias verfuhr. Obgleich wir aber des Herkules Heldentat bewundern
mögen, so verachten wir doch nur den Aqgias, der jedenfalls glüddicher und reicher gewesen
wäre, wenn er seine Ochsen rationeller gehalten hätte.
Die Lehre vom „gut für’s Geschäft“ (good for Trade) verträgt sich sdilecht mit gesunden sanitären
Maßregeln, weil Mr. „Gut für’s Geschäft“ Cwie Bunyan gesagt haben würde) sidi immer ab-
lehnend gegen die Vorschläge zur geringsten Verminderung der Massenbevölkerung verhält. Der
Handel liebt die großen Unternehmungen, zu denen das Geld geliehen werden mußte, und fragt
nicht viel nach dem Zwedr der Verwendung, wenn das Geld nur gegeben wird. Das unsere eng-
lischen Behörden diese fast unbegrenzte Macht besitzen, Anleihen zu madien, ist ohne Zweifel
insofern zu beklagen, weil sie sanitäre Autoritäten zu voreiligem Handeln ermutigen, während sie
sonst hätten langsam und vorsichtig vorgehen müssen und dabei Erfahrungen sammeln können.
Dem Mr. „Good for Trade“ fehlt es meistens nicht an Schlauheit, er merkt recht gut, wie
vorteilhaft umfassende sanitäre Einrichtungen für Grundbesitzer, Bauspekulanten, Aktionäre
von Wasserwerks-Gesellschaften, Lieferanten und eine Menge von Personen sind, die mit dem
Handel zu tun haben. Er versteht sich genau auf die verschiedenen Methoden, die Ortsbehörde
zu überlisten. (Bringing down the Local Government Board.) Wenn dann aber die Steuer-
zahler seufzen und klagen, so erwidert er darauf, daß die Ortsbehörde gegenüber dem, was
die Regierung anordnet, machtlos ist.
Seite 2 „Gott machte das Land und der Mensch machte die Stadt“, sagt der Diditer Couper.
Seite 3 Bei unsern modernen Verkehrsmitteln ist solches gefahrbringende Zusammendrängen von
Menschen sicher nicht nötig und man muß hoffen, daß noch vor Schluß des 19. Jahrhunderts die
Menschen nicht nur den Vorzug einsehen werden von rus in urbe, sondern auch von urbs in rure.
Man hört so oft Klagen über die Einförmigkeit in den ländlichen Bezirken, sollte aber doch
bedenken, daß unsere modernen Verkehrsmittel fast alle den Städten angehörenden soliden
Vorzüge auch den Dörfern erreichbar machen. Für wenig Geld kann selbst der im entlegensten
Dorf Wohnende, wenn sein Sinn danach steht, sich mit den neueren Ideen auf allen Gebieten
des Wissens bekannt machen. Die großen Städte werden eine von Tag zu Tag wachsende Gefahr
für das Land. Macht ist Recht, das gilt noch heute wie es von jeher galt, und es macht keinen
Untersdiied, ob die Bedrüdcung mit der Faust oder durch Wahlen ausgeübt wird.
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