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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0337
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B. Kritik der Denkmäler.

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Hilfsmittel zur stilkritischen Bestimmung, denn ein echtes Stück kann ent-
patiniert, ein Nachguß in archaisierender Weise patiniert sein. Ähnlich verhält
es sich bei den graphischen Blättern; das Papier und die Druckfarbe wider-
sprechen den Voraussetzungen, beide zeigen nicht die zu erwartende Ver-
gilbung oder Verblassung, beides Umstände von großer Bedeutung, aber
doch auch künstlicher Mache durchaus nicht absolut entzogen. Einigermaßen
ähnlich steht es mit solchen Herstellungsweisen, die zwar nicht mechanisch
sind, bei denen aber die manuelle Ausführung von der die Form schaffenden
Erfindung von Anfang an stark abtrennbar ist; eine Goldschmiedearbeit nach
einer alten Vorzeichnung wird von jener nicht sehr verschieden sein, für die
diese Werkzeichnung ursprünglich verfertigt worden war; auch hier werden
die materiellen Eigenschaften bei der Einordnung das ausschlaggebende Wort
sprechen und die Genauigkeit der Bestimmung innerhalb ziemlich weiter
Grenzen bleiben.
Sonst werden wir bei genügendem Material und fortschreitender Spezia-
lisierung zu immer kleineren Entwicklungsphasen, Jahrzehnten oder Lustren,
gelangen; vielfach ist eine derartige Genauigkeit der Bestimmung bereits
erreicht, denn in einem genau durchgearbeiteten Gebiet ist es uns ein deutlich
empfundener Unterschied, ob wir ein Objekt etwa um 1480 oder 1490 oder
1500 datieren. Damit soll nicht die bestimmte Behauptung gewagt sein, daß
das Werk nur in der so eng abgegrenzten Zeitspanne entstanden sein kann,
sondern nur, daß es den normalen Zeitstil dieser Daten zur Schau trägt. Mit
diesem Zeitstil, der etwas von der Abstraktion eines Idealbegriffs an sich
hat, kombiniert sich zunächst die lokale Bedingtheit; diese ist in physischen
und psychischen Momenten aller Art begründet und wurzelt ebensosehr in
der Rasse und in geographischen Verhältnissen wie in Umständen der künst-
lerischen Schulung und der wirtschaftlichen Lage usw., z. T. also in Bedin-
gungen, deren Kausalität dunkel und nahezu unfaßbar ist. Setzen wir nun die
Erzeugnisse verschiedener lokaler Provenienz in Beziehung zueinander, so
finden wir neue zeitliche Zusammenhänge; diese örtlich-zeitlich kombinierte
Entwicklungsreihe ergibt das Bild vom Wandern eines Stils. Dieser Vorgang,
den durch neue Kombination von Einzelelementen entstehenden Diago-
nalen vergleichbar, kann eine lokale oder eine allgemeine Bedeutung haben.
Wir sehen einen Stil von Westen nach Osten oder von Süden nach Norden
wandern und datieren eine gotische Form anders, wenn sie außer den gemein-
samen Stilmerkmalen die lokalen Eigentümlichkeiten Frankreichs oder die
Deutschlands zeigt, bestimmen einen Renaissancegegenstand verschieden,
wenn wir ihn nach Italien oder in einen ultramontanen Kunstkreis zu setzen
haben.
Diesen allgemeinsten Vorgängen entsprechen zahlreichere kleinere Pro-
zesse; West- und Ostdeutschland, Mittel- und Oberitalien stehen für gewisse
Probleme in einer zeitlichen Abfolge. Daneben spielen sich ganz lokale Vor-
 
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