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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0349
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B. Kritik der Denkmäler.

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und behalten eine Anzahl von Werken übrig, die über ihre Übereinstimmungen
hinaus Unterschiede zeigen, die ihre Aufteilung auf eine Reihe einzelner
Individuen nötig machen, während bei einigen die Verwandtschaft eine so
weitgehende ist, die übereinstimmenden Züge so zahlreiche und wesentliche
sind, daß für sie ein gemeinsamer Urheber angenommen wird. Es wurde also
ganz von den Eigenschaften der Werke ausgegangen, aus ihnen gewisser-
maßen biologisch eine Einheitlichkeit konstruiert, die über Genus und Spezies
hinaus nur durch ihr Wurzeln in einer Individualität erklärbar erscheint.
Für diese Einheit tritt der Künstler ein, seine Persönlichkeit deckt sich mit
dem Resultat der stilkritischen Arbeit, ist die Synthese aus den als zusammen-
gehörig erachteten Werken; natürlich wirkt die so gewonnene Persönlichkeit
dann auf die Weiterführung der Bestimmungsarbeit zurück, aber sie bleibt
doch stark begrifflich, ob sie nun anonym bleibt oder ob eine indirekte Quelle
ihr zu einem Namen verhilft. Von diesem krassesten Fall einer aus einheit-
lichen Werken konstruierten künstlerischen Persönlichkeit ist jener häufigere
Fall, daß ein Grundstock von Werken des betreffenden Künstlers bereits
gesichert ist und zur Zuschreibung weiterer Arbeiten an ihn dient, nicht
prinzipiell verschieden; auch hier wird von der Vergleichung der Formen aus-
gegangen, die zu bestimmenden Werke an die gesicherten angeschlossen und
so ein aus seinem Schaffen abgezogener Begriff der künstlerischen Persön-
lichkeit gewonnen, der sich nur gelegentlich — und wie zufällig — auf den
psychischen Gesamtkomplex des wirklichen Künstlers übertragen läßt.
Je mehr aber durch diese Methode — zum Unterschied von der psycho-
logischen Interpretation, die gewissermaßen vom künstlerischen Zentrum
ausgeht — von außen an den individuellen Künstler herangetreten wird,
desto unbedingter ist sie zu größter Akribie und Vorsicht verpflichtet. Denn
durch die Zuschreibung eines dem betreffenden Künstler nicht zugehörigen
Werkes wird seine Individualität verändert, verfälscht, während durch irr-
tümliche Aberkennung eines seiner Werke dieses wohl durch Beraubung eines
assoziativen Wertes geschädigt wird, der Künstler selbst aber nur eine quan-
titative Minderung erfährt1). Deshalb ist die Strenge, mit der z. B. Morelli
das Werk Giorgiones von fremden und fragwürdigen Zutaten gereinigt hat,
keine bloße Haarspalterei, sondern wissenschaftlich — ohne Rücksicht auf
9 Ich stehe hier in striktem Gegensatz zu Gustav Glück, der von jenen, die die indivi-
duelle Bestimmung nur bei größter Vorsicht für wissenschaftlich zulässig halten, sagt: „Sie
scheinen nicht daran zu denken, daß es ein viel schlimmerer Fehler ist, echte Werke großer
Meister für falsch (d. h. nach dem Zusammenhang, nicht von ihm herrührend) zu erklären,
als Fälschungen, deren Absicht ja doch die Täuschung der Kenner ist, für echt zu halten."
Graphische Künste 1911, S. 89. — Schon anläßlich des Holbeinstreites in Dresden hatte
E. Magnus in ähnlicher — sentimentaler — Weise der Kunstwissenschaft den Vorwurf ge-
macht, sie gehe viel zu rücksichtslos mit den traditionellen Bilderbezeichnungen um und
schade dadurch dem Volksbewußtsein. Magnus, Gedanken über die auf dem Zwinger zu Dres-
den stattgehabte Konfrontation der Holbeinbilder von Darmstadt und Dresden, Berlin 1871.
 
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