Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Tylor, Edward Burnett; Sprengel, J.W. [Übers.]; Poske, Fr. [Übers.]
Die Anfänge der Cultur: Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte (1. Band) — Leipzig: C. F. Winter'sche Verlagshandlung, 1873

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.61304#0124
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
110

Drittes Kapittel.

„Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lorelei gethan“.
Von diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist es verständlich, dass man
ein Opfer den Klauen des Wassergeistes selbst entreisst, wenn
man einen Versinkenden errettet, und das wäre eine unbesonnene
Herausforderung der Gottheit, welche schwerlich unbestraft bleiben
dürfte. In der civilisirten Welt ist die rohe, alte theologische
Ansicht vom Ertrinken längst einer natürlichen Erklärung gewichen,
und das Vorurtheil gegen die Rettung von solchem Tode mag jetzt
fast oder gänzlich verschwunden sein. Aber alterthümliche Vor-
stellungen, welche in den modernen Volksglauben und die Dichtung
eingedrungen sind, führen uns noch einen offenbaren Zusammen-
hang zwischen der ursprünglichen Lehre und den überlebenden
Sitten vor Augen.
Wie die sociale Entwicklung der Welt fortschreitet, so schwinden
die bedeutungsvollsten Gedanken und Handlungen zu blossen Ueber-
lebseln. Die ursprüngliche Bedeutung stirbt allmählich aus, jede
Generation hinterlässt dem Gedächtniss weniger und weniger davon,
bis sie schliesslich aus der Erinnerung des Volkes verschwindet;
in späteren Tagen muss dann die Ethnographie, mit grösserem oder
geringerem Erfolg, versuchen, sie wieder herzustellen, indem sie
die Linien vereinzelter und vergessener Thatsachen wieder zu-
sammensetzt. Kinderspiele, Volksredensarten, absurde Gebräuche
mögen praktisch unwichtig sein, aber in der Forschung sind sie
nicht ohne Bedeutung, da sie auf einigen der lehrreichsten Phasen
der frühesten Cultur beruhen. Hässlicher und grausamer Aber-
glaube erweist sich als Ueberrest eines ehemaligen barbarischen
Zustandes, denn, indem der Mensch diesen beibehält, ist er wie
Shakespeares Fuchs,
Der, noch so zahm, gehegt und eingesperrt,
Nicht ablässt von den Tücken seines Stamms.

4
 
Annotationen