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27. September t90^
Mehlige üenmlruiigei, aus Uem Tagebuch einer flatterbatten fliege.
Nukgezeicbn
bin die jüngste von einigen Abertausend Ge-
schwistern — alle wie aus dein Ei geschält, bei
deren letztem allerdings meine unfangbare Mutter
I ihr theures Leben einbüßte. Es war ihr Abschieds-
gelege. Mein Vater ist mir unbekannt und möge es
/ M immerdar bleiben. Bei uns Fliegen gilt der Grund-
U satz: In reeberella äs 1a patsrnits sst intsräits! Tiefe Vor-
schrift des 6oäs Napoleon ist das Einzige, was wir von dem
rohen, schwerfälligen und dummen Menschengeschlecht anzunehmen
uns entschlossen haben.
Von wie unglaublicher Geistesträgheit dieser sogenannte Herr
der Schöpfung ist, habe ich erst kürzlich wieder zu erkunden
Gelegenheit gehabt. Da hat sich schon vor längerer Zeit ein Bund
gebildet, dem die wirklich fliegenhaft tüchtige Idee zu Grunde
liegt, daß die Bundesmitglieder — Agrarier nennen sie sich, wenn
ich nicht irre — es sich zum Prinzip machen, das Besitzthum jedes
anderen Staatsbürgers nach Gefallen mitzubenutzen, an jedem
fremden Stückchen Zucker, von jedem fremden Schlückchen Wein
sozusagen mitzunaschen.Vortrefflich! Ganz unser Grund-
satz! Aber warum in aller Welt denn zu solch naturgemäßem
Zweck einen Verein bilden?! Die freie Fliege thnt das eben
einzeln — selbständig — auf die Gefahr ihres eigenen
Rüssels hin! —
Gestern ist meine hundertundzweitülteste Schwester ihren:
Drang „sich auszuleben" zum Opfer gefallen. — Dieser Verlust
schmerzt mich sehr, ich werde mich deshalb heute nur auf
Schwarzwurzeln setzen und in schwarzem Kaffee baden. — Meine
arme Surrsnmm! Sie war eine echte Fliege! Der Wille
zum Sinnlich-Süßen steckte ihr tief im weißen Lebenssäfte, und
so starb sie denn auch in Schönheit und Süßigkeit.
Sie war mitten in das Milieu eines Honigtopfes gefallen, welches
sie alsbald über die ganze Platte des herbstlich sterbebraun Polirten
Tisches hinter sich herschleppte — ihr letztes Schleppflügelkleid!
„llgborsmus!" rief ich ihr von meinein gesicherten Standpunkt auf
einem Kristallprisma aus zu, sie zum kräftigen Flugansatz
spornend.Da traf sie der Schlag.sie, die modernst
Beschwingte, mußte der Klatsch-Sucht einer greisenhaften Ver-
treterin längstvermorschter Vergangenheit erliegen! Grausame
Ironie des Schicksals, und zugleich tiefste Symbolik auf deu bei den
Menschen so beliebten „fliegenden Gerichtsstand der Presse!"
Undankbar ist das erbärmliche Menschengeschlecht auch! Es
hat dem Begriff „Streber" euren gehässigen, ja, ich möchte sagen
einen verächtlichen Beischmack angehängt — und doch ist dieser
„Streber" noch das einzige einigermaßen sliegenwürdige Exemplar
jener erbärmlichen Säugethierabart „Mensch".
t von 1k. S.--L.
Nur natürlich, daß wir geflügelte Streber uns millionenfach
besser auf diesen schönen Beruf verstehen als die plumpen ringe-
flügelten. Liegt so ein menschlicher Streber seinem „hohen Vor-
gesetzten" wirklich einmal mit Nachdruck in den Ohren, so wird
das schon von Strebverständigen als eine Leistung ersten Ranges
gerühmt. Wir dagegen! Nicht nur in die Ohren, in die Nasen-
löcher — und der Fliegengott weiß wohin noch — kriechen wir
unseren „erhabenen" Opfern; wir summen sie um Sinn und
Verstand und treiben sie bis zur Selbstgeißelurrg!
Uebermensch —?! Blödsinn! Ueberfliege: da liegt die Lösung
des Welträthsels der Zukunft — namentlich in der warmen
Jahreszeit! Heute Morgen habe ich einen sogenannten Herren-
moralisten, einen Kerl, der von seinem lieben Ich als der
einzigen Gottheit sprach, so weit gebracht, sich selbst zu ohrfeigen,
um mich zu treffen; die Nasenspitze hatte er sich breitgepatscht, und
ich saß lächelnd auf dem Rande eines Tellers mit „giftigem
Fliegenpapier" (das ich übrigens nicht ungern rieche!) und schabte
ihm mit meinen Vorderbeinen Rübchen.
Und wie unmodern — diese zweibeinigen Vernunftbesitzer!
Da bieten sie auf den Straßen noch immer etwa 50 Centimeter
lange Rohrstäbchen, die mit einer zähen, klebrigen Masse bestrichen sind,
und an denen wir auf- und niederkriechen sollen — ein Sport,
welcher in besseren geflügelten Kreisen überhaupt nicht mehr
geübt wird. In unbewußter Selbstirouie nennt inan diese
Röhrchen „Fliegen-Stöcker" — nach einem verblaßten sozial-kon-
fessionellen Agitator, dein auch Keiner mehr auf deir Leim geht. —
Nun fehlte nur noch, daß man dem Fliegennamen die Schmach
anthut, und die Anarchisten als die Tse-Tse oder Giftfliegen der
Gesellschaft bezeichnte!.Aber unsere Rache gegenüber einer
solchen menschlichen Infamie würde nicht ausbleiben.
Welch wundervolles Aroma strömt ans mich ein und läßt
meinen Rüssel vor Begierde zittern! Es scheint von jener.selig
still im Sonnenschimmer gleißenden Glasglocke auszugehen.
Wie das lüstert — wie das Prickelt — — wonneschnaufen möchte
man in alle Ewigkeit! Schaaren meiner theuern weitläufigen
Brüder und Schwestern pilgern auch bereits den bequemen Pfad
nach jenem duftenden Eden, jenem Quell der Erquickung.-Es
scheint sechs- bis achtundneunziggrüdiger.-Also hinein in die
Grotte der Verheißung.-So denke ich mir den leisen Ein-
zug mild widerstrebender Parlamentsparteien ins lila lockende
Mysterium des Zolltarifs. — Aber Plötzlich — ha — wie wird mir —!
Der Spiritusdunst steigt höher — immer höher — meine Sinne
umnebeln sich — mir flimmert's vor sämmtlichen Augen-ich
falle-ach, warum bin ich nicht rechtzeitig dem Verein gegen
den Alkoholismus beigetreten.
Oer Oöne unä äie Mnscken.
in Journalist, wie ihr gelesen,
Ging jüngst in eines Löwen Haus,
Und dieses königliche Wesen
warf den Besucher nicht hinaus.
Auch Airschncr faßte den Gedanken
Und rief: „Herr Löwe, ich bin hier!"
Der aber hob ergrimmt die Pranken
Und brüllte: „Wurm du, fort mit dir."
Nie pariser in Verlegenheit.
MU"eäer rur llleltausstellung, noch bei Lelegen-
heit äes Tarenbesuches gelang es äen
Parisern, ein gekrönte; Haupt in ihrer Staät
ru empfangen.
Ihre Sehnsucht steigt von Jahr ru Jahr,
uncl wenn sich kremäe Monarchen nicht bereit
finäen lassen, nach cler schönen Seinestaät ru
kommen, wircl äen armen Parisern nichts anäeres
übrig bleiben, als — sich wieäer einen eigenen
Kaiser aiwuschallen.
Da mußte Rirschncr heimwärts wandern
Und sprach zu seiner lieben Frau:
„Nicht jeder Löwe gleicht dem andern,
Das merk' ich mir fortan genau!"
27. September t90^
Mehlige üenmlruiigei, aus Uem Tagebuch einer flatterbatten fliege.
Nukgezeicbn
bin die jüngste von einigen Abertausend Ge-
schwistern — alle wie aus dein Ei geschält, bei
deren letztem allerdings meine unfangbare Mutter
I ihr theures Leben einbüßte. Es war ihr Abschieds-
gelege. Mein Vater ist mir unbekannt und möge es
/ M immerdar bleiben. Bei uns Fliegen gilt der Grund-
U satz: In reeberella äs 1a patsrnits sst intsräits! Tiefe Vor-
schrift des 6oäs Napoleon ist das Einzige, was wir von dem
rohen, schwerfälligen und dummen Menschengeschlecht anzunehmen
uns entschlossen haben.
Von wie unglaublicher Geistesträgheit dieser sogenannte Herr
der Schöpfung ist, habe ich erst kürzlich wieder zu erkunden
Gelegenheit gehabt. Da hat sich schon vor längerer Zeit ein Bund
gebildet, dem die wirklich fliegenhaft tüchtige Idee zu Grunde
liegt, daß die Bundesmitglieder — Agrarier nennen sie sich, wenn
ich nicht irre — es sich zum Prinzip machen, das Besitzthum jedes
anderen Staatsbürgers nach Gefallen mitzubenutzen, an jedem
fremden Stückchen Zucker, von jedem fremden Schlückchen Wein
sozusagen mitzunaschen.Vortrefflich! Ganz unser Grund-
satz! Aber warum in aller Welt denn zu solch naturgemäßem
Zweck einen Verein bilden?! Die freie Fliege thnt das eben
einzeln — selbständig — auf die Gefahr ihres eigenen
Rüssels hin! —
Gestern ist meine hundertundzweitülteste Schwester ihren:
Drang „sich auszuleben" zum Opfer gefallen. — Dieser Verlust
schmerzt mich sehr, ich werde mich deshalb heute nur auf
Schwarzwurzeln setzen und in schwarzem Kaffee baden. — Meine
arme Surrsnmm! Sie war eine echte Fliege! Der Wille
zum Sinnlich-Süßen steckte ihr tief im weißen Lebenssäfte, und
so starb sie denn auch in Schönheit und Süßigkeit.
Sie war mitten in das Milieu eines Honigtopfes gefallen, welches
sie alsbald über die ganze Platte des herbstlich sterbebraun Polirten
Tisches hinter sich herschleppte — ihr letztes Schleppflügelkleid!
„llgborsmus!" rief ich ihr von meinein gesicherten Standpunkt auf
einem Kristallprisma aus zu, sie zum kräftigen Flugansatz
spornend.Da traf sie der Schlag.sie, die modernst
Beschwingte, mußte der Klatsch-Sucht einer greisenhaften Ver-
treterin längstvermorschter Vergangenheit erliegen! Grausame
Ironie des Schicksals, und zugleich tiefste Symbolik auf deu bei den
Menschen so beliebten „fliegenden Gerichtsstand der Presse!"
Undankbar ist das erbärmliche Menschengeschlecht auch! Es
hat dem Begriff „Streber" euren gehässigen, ja, ich möchte sagen
einen verächtlichen Beischmack angehängt — und doch ist dieser
„Streber" noch das einzige einigermaßen sliegenwürdige Exemplar
jener erbärmlichen Säugethierabart „Mensch".
t von 1k. S.--L.
Nur natürlich, daß wir geflügelte Streber uns millionenfach
besser auf diesen schönen Beruf verstehen als die plumpen ringe-
flügelten. Liegt so ein menschlicher Streber seinem „hohen Vor-
gesetzten" wirklich einmal mit Nachdruck in den Ohren, so wird
das schon von Strebverständigen als eine Leistung ersten Ranges
gerühmt. Wir dagegen! Nicht nur in die Ohren, in die Nasen-
löcher — und der Fliegengott weiß wohin noch — kriechen wir
unseren „erhabenen" Opfern; wir summen sie um Sinn und
Verstand und treiben sie bis zur Selbstgeißelurrg!
Uebermensch —?! Blödsinn! Ueberfliege: da liegt die Lösung
des Welträthsels der Zukunft — namentlich in der warmen
Jahreszeit! Heute Morgen habe ich einen sogenannten Herren-
moralisten, einen Kerl, der von seinem lieben Ich als der
einzigen Gottheit sprach, so weit gebracht, sich selbst zu ohrfeigen,
um mich zu treffen; die Nasenspitze hatte er sich breitgepatscht, und
ich saß lächelnd auf dem Rande eines Tellers mit „giftigem
Fliegenpapier" (das ich übrigens nicht ungern rieche!) und schabte
ihm mit meinen Vorderbeinen Rübchen.
Und wie unmodern — diese zweibeinigen Vernunftbesitzer!
Da bieten sie auf den Straßen noch immer etwa 50 Centimeter
lange Rohrstäbchen, die mit einer zähen, klebrigen Masse bestrichen sind,
und an denen wir auf- und niederkriechen sollen — ein Sport,
welcher in besseren geflügelten Kreisen überhaupt nicht mehr
geübt wird. In unbewußter Selbstirouie nennt inan diese
Röhrchen „Fliegen-Stöcker" — nach einem verblaßten sozial-kon-
fessionellen Agitator, dein auch Keiner mehr auf deir Leim geht. —
Nun fehlte nur noch, daß man dem Fliegennamen die Schmach
anthut, und die Anarchisten als die Tse-Tse oder Giftfliegen der
Gesellschaft bezeichnte!.Aber unsere Rache gegenüber einer
solchen menschlichen Infamie würde nicht ausbleiben.
Welch wundervolles Aroma strömt ans mich ein und läßt
meinen Rüssel vor Begierde zittern! Es scheint von jener.selig
still im Sonnenschimmer gleißenden Glasglocke auszugehen.
Wie das lüstert — wie das Prickelt — — wonneschnaufen möchte
man in alle Ewigkeit! Schaaren meiner theuern weitläufigen
Brüder und Schwestern pilgern auch bereits den bequemen Pfad
nach jenem duftenden Eden, jenem Quell der Erquickung.-Es
scheint sechs- bis achtundneunziggrüdiger.-Also hinein in die
Grotte der Verheißung.-So denke ich mir den leisen Ein-
zug mild widerstrebender Parlamentsparteien ins lila lockende
Mysterium des Zolltarifs. — Aber Plötzlich — ha — wie wird mir —!
Der Spiritusdunst steigt höher — immer höher — meine Sinne
umnebeln sich — mir flimmert's vor sämmtlichen Augen-ich
falle-ach, warum bin ich nicht rechtzeitig dem Verein gegen
den Alkoholismus beigetreten.
Oer Oöne unä äie Mnscken.
in Journalist, wie ihr gelesen,
Ging jüngst in eines Löwen Haus,
Und dieses königliche Wesen
warf den Besucher nicht hinaus.
Auch Airschncr faßte den Gedanken
Und rief: „Herr Löwe, ich bin hier!"
Der aber hob ergrimmt die Pranken
Und brüllte: „Wurm du, fort mit dir."
Nie pariser in Verlegenheit.
MU"eäer rur llleltausstellung, noch bei Lelegen-
heit äes Tarenbesuches gelang es äen
Parisern, ein gekrönte; Haupt in ihrer Staät
ru empfangen.
Ihre Sehnsucht steigt von Jahr ru Jahr,
uncl wenn sich kremäe Monarchen nicht bereit
finäen lassen, nach cler schönen Seinestaät ru
kommen, wircl äen armen Parisern nichts anäeres
übrig bleiben, als — sich wieäer einen eigenen
Kaiser aiwuschallen.
Da mußte Rirschncr heimwärts wandern
Und sprach zu seiner lieben Frau:
„Nicht jeder Löwe gleicht dem andern,
Das merk' ich mir fortan genau!"