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Claude Schnaidt
Neue Schweizer Architektur

New Swiss Architecture

Was soll man von der jüngsten Entwicklung der Schweizer Architektur
halten? In dem Buch ‘Neue Schweizer Architektur' (Niggli Verlag,
in Deutschland von dem Verlag Gert Hatje ausgeliefert) spricht Alfred
Altherr von einem Erfolg. Wenn man die in diesem Buch vorgestellten
Werke mit jenen vergleicht, die Max Bill ausgewählt hatte, um die
Periode von 1925 bis 1945 zu dokumentieren, wird man eher geneigt
sein, von einer Regression zu sprechen. Vor nicht allzu langer Zeit
stellte man die Schweizer Architektur noch hin als ein Beispiel für
Nüchternheit und sozialen Gehalt. Im Laufe einer wunderbaren
Prosperität während der vergangenen acht Jahre scheinen die Schwei-
zer Architekten diese demokratischen Eigenschaften vergessen zu
haben. Der Geschmack am Prestige hat die Sorge um eine gutgemachte
Arbeit in einen technischen Luxus verwandelt, der der Schweiz den
schmeichelhaften Ruf der Qualität eingebracht hat, der aber im Grunde
genommen antisozial ist. Die durch diesen technischen Luxus
bedingte Geldverschwendung ist um so gefährlicher, da sie nicht von
der Arroganz des dekorativen Luxus begleitet ist. Adolf Loos paraphra-
sierend könnte man sagen: wenn das Ornament ein Verbrechen ist,
dann ist die Vervielfältigung der kostspieligen Details ein Betrug.
Doch obendrein begehen die Schweizer Architekten auch noch das
Verbrechen des Ornaments. Sie entgehen nicht der Tendenz, die
vorgibt, den Utilitarismus und den “Mangel an Beseeltheit“ des
Funktionalismus zu überwinden. Sie erheben sich gegen die Monotonie
der Standards; sie wollen eine menschlichere Architektur schaffen.
Sie wollen deshalb die schöpferische Individualität rehabilitieren und
aus ihrem Beruf wieder eine Kunst machen. Aber täuschen sie sich
nicht sehr in dem Glauben, wahrere, unmittelbarere und tiefere
Beziehungen zwischen den Menschen herstellen zu können, indem sie
nichts weiter tun, als neue Formen zu erfinden? Das Problem des
Glücks ist nicht ausschließlich ein formales Problem. Die Langeweile
und das unstete Leben in den modernen Städten haben tiefere
soziale Ursachen als die Form der Gebäude. Deshalb glauben wir, daß
die Zuflucht im Manierismus, die in der Schweiz und in gewissem
Maße heute überall floriert, nichts zu tun hat mit einer realen Humani-
sierung des Habitat.
Wenn Alfred Altherr sagt: “Wir suchen heute nach einem Haus, welches
sich variieren läßt“, dann gewinnt man beim Durchblättern seines
Buches nicht den Eindruck, daß er damit eine allgemeine Tendenz der
Schweizer Architekten trifft. Im Gegenteil, der massive, monumentale,
bildhauerische und abgeschlossene Charakter einer Vielzahl von
Werken steht der Suche nach einer wandelbaren Architektur entgegen.
Viele Architekten scheinen mehr damit beschäftigt zu sein, Monumente
für die Ewigkeit zu bauen, als das Land auszustatten für die Bedürf-
nisse einer ständigen Entwicklung. Was wird man in 50 Jahren aus der
Hochschule von St.Gallen machen, wenn der Unterricht in den Wirt-
schafts- und Sozialwissenschaften sich geändert hat? Hoffen wir, daß
die Zukunft Alfred Altherr eher recht geben wird als den Erbauern
von Palästen.

What are we to think about the recent developments of Swiss archi-
tecture? In his book ‘Neue Schweizer Architektur' (Niggli Publishing
House, Teuffen/Swiss) Alfred Altherr speaks of a success. When
comparing the works published in this book with those selected by
Max Bill for his book, covering the period between 1925 and 1945, one
is rather inclined to speak of a regression. Not a long time ago
Swiss architecture served as an example for sobriety and social
concern. Düring eight years of a fabulous prosperity, the Swiss archi-
tects seem to have forgotten these democratic virtues. The attention
paid to the well-done detail has been transformed into a technical
luxury, having brought Switzerland the flattering reputation of first
quaiity which in the end is essentially antisocial. The monetary extra-
vagance caused by the technical luxury is dissembling, because
it lacks the arrogance of decorative luxury. Paraphrasing Adolf Loos
one might say: if Ornament is a crime, then multiplication of expensive
details is a fraud.

But, furthermore, Swiss architects do commit the crime of Ornament.
They do not avoid the tendency which pretends to overcome
utilitarism and the “lack of the human touch“ of functionalism.
They rebel against the monotony of Standards. They wish to create
a more human architecture. Therefore, they want to rehabilitate
the Creative individuality and to reshape their profession into an art
once again. But aren't they misled in their belief, in their abilities
to establish more direct, more profound, and more genuine
relations between the members of society, by doing nothing more
then inventing new forms? The problem of happiness is not exclusively
a formal one. The boredom and the hectic life of modern eitles have
deeper social origins than simply the problem of the form of buildings.
Therefore, I believe that the recourse to mannerism florishing in
Switzerland today and, to a certain degree, everywhere, has but little
to do with a real humanization of the habitat.

Alfred Altherr declares: “We are looking today for a house that is
flexible.“ But in turning the pages of his book, one hardly gets the
impression that this is a general tendency of Swiss architects. On the
contrary, the massive, monumental, sculptural, and definite character
of a great number of works runs contrary to the search for a flexible
architecture. Many architects seem to be more concerned with the
erection of monuments for eternity than with fitting out the country for
the needs of a continuous evolution. What will happen to the Hoch-
schule in St. Gallen in 50 years, when the teaching of the economic and
social Science has changed? We hope that the future confirms Alfred
Altherr rather than the constructors of palaces.

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