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Ulm — Nr. 19/​20.1967

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Schnaidt, Claude: Architektur und politsches Engagament
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https://doi.org/10.11588/diglit.60952#0028
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Theorie

Theory

Claude Schnaidt
Architektur und politisches Engagement
Text eines Vortrages, gehalten an
der Hf BK Hamburg am 2. März 1967

Architecture and Political Commitment
Lecture given at the Academy of Fine Arts,
Hamburg, on March 2,1967

Als die Pioniere der modernen Architektur noch jung waren,
dachten sie wie William Morris, daß die Architektur eine “Kunst des
Volkes für das Volk“ sein solle. Statt die Geschmäcker einiger
Privilegierter wollten sie die Bedürfnisse der Gemeinschaft
befriedigen. Sie wollten die Behausung für den Menschen schaffen,
sie wollten die “Cite radieuse“ bauen. Aber sie hatten nicht mit
der merkantilen Bourgeoisie gerechnet, die sich sehr schnell
ihrer Theorien bemächtigte, um sie zu ihrem Profit zu wenden.
Das Konzept der Zweckmäßigkeit wurde schnell in das der
Rentabilität umgewandelt. Die anti-akademischen Formen wurden
zum Dekor der herrschenden Klasse. Die rationelle Wohnung
verwandelte sich in die Kleinstwohnung, die “Cite radieuse“ in
die Großsiedlung, die plastische Strenge in Armseligkeit. Die
Architekten der Gewerkschaften, Genossenschaften und der
sozialistischen Gemeinden stellten sich den Whisky- oder Wasch-
mittelhändlern, den Bankiers und dem Vatikan zur Verfügung.
Die moderne Architektur, die sich an der Befreiung des Menschen
durch Schaffung einer neuen Lebensform beteiligen wollte, hat
sich in ein Großunternehmen zur Degradierung des Wohnens
verwandelt. Die moderne Architektur, die das Ende des Formalis-
mus angekündigt hatte, wurde zu einem Formenspiel für Ein-
geweihte. Die moderne Architektur, die mit dem Anspruch antrat,
ein Instrument der befreiten Nutznießung zu werden, transformierte
sich in ein Mittel der Vergewaltigung und der Entfremdung des
Menschen. Man muß gestehen, daß diese Veränderung einer
großen Bewegung in ihr Gegenteil sehr befremdlich ist. Was ist
geschehen? War diese Entwicklung unvermeidlich? Wie kann
man sie rückgängig machen?
Seit der ersten industriellen Revolution besteht die Aufgabe des
Architekten nicht mehr darin, für ein paar Privilegierte zu bauen,
sondern den Bedürfnissen einer ständig wachsenden Bevölkerung
entgegenzukommen. Die Probleme des Architekten und des
Stadtplaners sind Sozialprobleme geworden, d. h. Probleme,
die von der Gesellschaft an die Gesellschaft gestellt werden. Diese
Tatsache kann von niemandem mehr bestritten werden. Auf der
anderen Seite hat sie eine Konsequenz, die selten eingestanden
wird: man kann sich nicht in die wirtschaftliche und soziale
Wirklichkeit begeben, ohne die Politik zu tangieren. Die Denker
des 19. Jahrhunderts, wie Owen, Cabet, Fourier, Morris, auf deren
Werk sich die moderne Stadtplanung gründet, hatten das sehr
wohl erkannt. Ihre städtebaulichen Vorschläge waren immer mit
einer umfassenden Kritik der kapitalistischen Gesellschaft
verbunden.
Hundert Jahre später, am Ende des Ersten Weltkriegs, war diese
engagierte Anschauung über den Städtebau schon weniger
verbreitet. Sie wurde jedoch noch einmal durch die Europa über-
schwemmende revolutionäre Welle belebt: Die sowjetische
Revolution brachte große Hoffnungen auf eine ganz neue
Ordnung mit sich, welche die Verwirklichung der Stadt der Zukunft
günstig erscheinen ließ. In Deutschland hoffte man, daß mit dem
Ende der Monarchie der Augenblick tiefgreifender Sozialreformen

In the days when the pioneers of modern architecture were still
young they thought like William Morris that architecture should
be an “art of the people for the people“. Instead of pandering
to the tastes of the privileged few, they wanted to satisfy the
requirements of the Community. They wanted to build dwellings
matched to human needs, to erect a “Cite radieuse“. But they
had reckoned without the commercial instincts of the bourgeoisie
who lost no time in arrogating their theories to themselves
and pressing them into their Service for the purpose of money-
making. Utility quickly became synonymous with profitability.
Anti-academic forms became the new decor of the ruling dass.
The rational dwelling was transformed into the minimum
dwelling, the “Cite radieuse“ into the urban conglomeration,
and austerity of line into poverty of form. The architects of the
trade unions, co-operatives and socialist municipalities were
enlisted in the Service of the whisky distillers, detergent manu-
facturers, bankers and the Vatican. Modern architecture, which
wanted to play its part in the liberation of mankind by creating
an new environment to live in, was transformed into a giant
enterprise for the degradation of the human habitat. Modern
architecture which proclaimed the end of formalism became
itself a pastime for those who like to toy with forms. Modern
architecture which began by aspiring to set man free so that
he could enjoy the good things of life ended up by enslaving
and alienating him. Admittedly there is something very odd
about this transformation of a great movement into its opposite.
What has happened? Was this development inevitable?
What can be done to reverse it?
Ever since the first industrial revolution it has been the job of
the architect not to build for a privileged few but to satisfy the
needs of a constantly growing population. The problems of
the architect and the city-planner have become social problems,
i. e. problems which are propounded to society by society.
This fact is no longer disputed. Yet there are very few who are
ready to look squarely at a consequence that flows from it, viz.
that no one can bring infiuence to bear on social and economic
realities without becoming politically involved. Those 19th Century
thinkers like Owen, Cabet, Fourier and Morris, the fathers of
modern city-planning, were very much alive to this fact. Their
proposals as urbanists were inseparable from an all-out criticism
of capitalist society.

When World War I came to an end one hundred years later,
this committed view of city-planning was much less current than
before. Nevertheless it was revitalized by the revolutionary
wave that swept over Europe. The Russian Revolution engen-
dered high hopes of an entirely new Order in which everything
was set fair for the creation of the City of the future. In Germany
people hoped that once the monarchy had been swept away
the time had come for drastic social reforms which would

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