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^ 214. Zweites Blatt

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Dienstag. 3. Slngnst 133k'

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Aedaktionsöureau: Brunngasse Nr. 2.

Hagesöerichl

vom 2. August.

Jn Jtalien hat am Sonutag die lehte Nach-
wahl stattgefunden, eine Stichwahl zwischen dem
Kandidaten der gouvernementalen Partei, Fürsten
Colonna, und dem Volkstribunen Coccapieller,
jenem vor Jahren vielgenannten Manne schweizerischer
Abkunft (Guggenbühler soll sein eigentlicher Name
sein), der die Schlange der Korruption zu zertreten
versprochen hatte und bei diesem edlen Vorhaben
ins Gefängniß kam. Als Coccapieller zuerst in
seinem Blättlein die damals herrschenden Libcralen
schonungslos angriff nnd die Freiheitsapostel als
gemeine Schwindler und Betrüger hinstellte, da
jubelten ihm nicht bloß die Volksmasscn zu, die
sich immer freuen, wenn ein Großer durch den
Staub geschleift wird, auch die Gebildeten konser-- s
vativer Richtung nickten wohlgefällig dcm Manne!
zu, der sie von verhaßten Gegnern zu befreien!
verhieß. !

Die Mailänder Perseveranza bekennt es noch !
heute: „Wir gehörten in diesem Blatte zu den wohl- z
wollendsten Beurtheilern Coccapiellers. Wir aner- -
kannten, daß er, vielleicht ohne es zn beabsichtigen, !
der gemäßigten Partei einen Dienst erweise, indem '
er die vielen Mängel so mancher Männer ausdeckte,
welche unter der Hülle einer unbändigen Liebe für
die politische Freiheit die Zügellosigkeit ihrer Sitten
und ihrer Gier verbargen. Jn diesem Kriege bewies
er Muth. Er zuerst schöpfte gegen Lopez (den im
Millionenprozcß angeklagten Advokaten) Verdacht
und sagtc es. Aber später — fährt einschränkend
das konservative Blatt fort — spätcr hieb er über
die Schnur. Von keiner Kritik geleitet, rohen
Geistes, eine unfeine und ungebildete Natur, wurde
er Pamphletist. Er verleumdete. Er wußte die
Anklagen nicht zu beweisen; er konute es nicht.
Nun verbüßt er die Strafe im Kerker. Jst das
der Mann, den Rom als seinen Bertretcr ins
Parlament senden sollte?"

Die Antwort hat Rom bereits gegeben. Am
letzten Sonntag fielen auf Colonna, den Mann aus
altberühmtem Geschlechte, den seingebildeten Patri-
zier und geschulten Parlamentarier 4144, auf
Coccapieller aber, den Fremden, den Pamphletisten,
den Verurtheilten, 4267 Stimmen. Der Wahl-
kamps hatte so großes Jnteresse hervorgerufen, daß
von den 26,000 in die Stimmlisten eingetragenen
Wählern Roms mehr als 8000 an den Urnen er-
schiencn, 2000 mehr als am vorhergehendcn Sonn-
tag. Das ist viel sür die italienische Hauptstadt,
deren Bürger den Sonntagsausflug nach Porto
d'Anzio, Civitavecchia, Albano oder Frascati sehr
ungern langweiligen politischen Pflichten opfern.

Wenn die Kammer die Wahl nicht annullirt,
wozu sie vielleicht nach der Art der Verurtheilung
Coccapiellers nicht einmal das Recht hat, so wird der
Häftling der Carceri Nuove abermals in die Kammer -
einziehen, um durch die Seltsamkeit seines Aufzuges
Neugier und durch sein Benehmen Spott und
Gelächter hervorzurufen, bis ihn eine neue Un-
vorfichtigkeit — so nennen die gutmüthigen Jta-
liener eine saftige Verleumdung — abermals vor
drn Strafrichter und ins Gesängniß zurückbringt.

Melleicht hat aber der Aufenthalt in CarceriNuove
für Coccapieller das Gute gehabt, ihn Vorsicht zn
lehren, oder wie wir in unfcrem ungeschlachten
Deutsch fagen würden, ihm das Lügen zu entlei-
den und das Verleumden abzugewöhnen. Leider
geberdet stch nur das römische Volk so, daß es
einen ohnehin zum Größenwahn geneigten Mann
wohl um das Bischen Verstand und Besonnenheit
bringen kann.

Als vor etlichen Monaten die Wähler von
Pavia einen andern Pamphletisten, den gebildcten
und gelehrten Sbarbaro zum Kollegen Cairolis zu
machen für gut fanden, gab es vor dem Neuen
Gefängniß in Rom einen großen Auflauf; der
neue Deputirte wurde im Triumph abgeholt und
durch die Straßen nach seiner Wohnung geführt.
Dcr so wie so wenig kühle Kopf des halbverrückten
Mannes wurde von der Ovation, die ihm seine
Mitbürger brachten, ganz heiß, und es kam ihm
gut, daß Frau Concetta klüger war als er und
ihn an Redcn verhinderte, die ihm ohne Zweifel
ueue gerichtliche Verfolgung und vielleicht neue
Haft zugezogcn hätten. Sbarbaro saß im Unter-
suchungsgefängniß, und das Ministerium mußte
ihn darum freigeben, sobald er die Jmmunität des
Abgeordneten erlangt hatte. Coccapieller ist rechts-
kräftig verurtheilt, und mit seiner Freilassung dürfte
es darum gute Wege haben.

Das Volk von Rom hielt nichtsdestoweniger
darauf, dem Märtyrer der Wahrheit, dem uner-
schrockenen Kämpen gegen die Großen seine Ver-
ehrung zu erweisen und der Rcgierung demonstrativ
die Verachtung zu bezeugen, welche die aufgeklärten
Römcr für jede Regierung empfinden. Als die
Wahlnachricht bekannt wurde, brach das Volk auf
dem Platze des Kapitols in Jubel aus ; der Cocca-
piellerist Grottarelli sprang auf einen Wagen und
schrie, der Sieg Coccapiellers bedeute das Ende der
Camorra, der Ausbeutergesellschaft, zu welcher die
Römer so ziemlich alles rechnen, was nicht selbst
zum pvxolino gehört. Dann zogen etliche hundert
Menschen, darunter vicle Knaben, vor die Carceri
Nuove, schrien: Es lebe der Abgeordnete Cocca-
pieller ! Es lebe Rom ! und kehrten dann nach dem
Platze Colonna zurück; hier intonirte die Musik die
Königshymne und das Volk, dessen Haß nur den
Regierenden, nicht dem Königshause gilt, fang sie
eifrig mit.

Ein Volkshaufe zog sodann nach der Straße
Coppello, um vor dem Bureau des i?vpo1s ro-
mauo, der in der römischen Presse am meisten die
Ansichten des Ministerpräsidenten vertritt, zu lär-
men und zu toben, bis Karabinieri die Straße
räumten. Dic Demonstranten begaben sich weiter
nach der Piazza Navona: dort erschien ein Polizei-
kommissär und veranlaßtc sie endlich zum Ausein-
andergehen.

Natürlich ergehen sich nun die Blätter in
Wahlbetrachtungen. Sicher scheint, daß Ricciotti
Garibaldi, des braven Generals wenig würdiger
Sohn, über die Niederlage erbittert, die er selbst
am vorhergehenden Sonntag erlitten, seinen An-
hängern empfahl, ihre Stimmen auf Coccapieller
zu werfen. Die Radikalen, welche am 25. für
Giovagnoli und Zuccari gestimmt hatten, fielen

acht Tage später auf Coccapiellers Seite, damit
nicht die verhaßtc Regierung in Colonna eine
Stütze erhalte. Außerdem sollen namentlich extreme
Klcrikale, denen jede Derwirrung und Verirrung
im Königreich und namentlich im geraubten Rom
recht ist, für den Pamphletisten gestimmt haben,
um die gegenwärtigen Zustände in Jtalien und in
Rom vor den Augen der Welt bloßzustellen.

- Dafür müsfen sich die Klerikalen freilich vor-
halten laffen, daß der politische Unverstand der
^ Massen, dem die Coccapieller und Cipriani ihre
Wahl verdanken, gerade in jenen Gegenden zu
Hause ist, die bis vor fünfzehn und fünfundzwanzig
Jahren unter der Herrschast der Kurie standen.
Unter diesem Regimente sei das Volk zur regel-
mäßigen Ausübung bürgerlicher Rechte und Pflichten
zu faul, zum Demonstriren aber mit Lärmen und
Umzügen allezeit bereit geworden. Die Spuren
jahrhundertclanger Knechtung seien durch dcn in-
telligentesten Staat nicht leicht auszulöschcn.


Hkidelbergrr Fejltage.

Von Hans Thunichtgut.

(Heidelberg, 31. Juli.)

Von Metz fuhr ich über Saarbrücken nach Heidelberg
zur großen Festwoche, die nunmehr anhebt. Mctz, Saar-
brücken, Heidelberg! Jeder Name bedeutet eine andere
Welt.

Die gewaltige beutsche Reichsfestung lag mit verdrossenem
Gesicht in den kühlen Armen der Mosel trotz des hellen
Sommcrtages, der rings die Felder vergoldete. Jnmitlen
einer meilenweiten grünen Ebene, die rundum von cinem
steilen Hügelkranz umgeben ist, hat sich das altcrsgraue
Metz in der tiessten Stelle niedergeduckt, so daß kein
seindliches Auze die Stadt von außen zu sehen vermag-
Ein schwärzlicher Häuserklumpen hinter Wall und Graben
versteckt: das ist Metz.

Ringsum lagern auf den Höhen, d!e das grüne Wasch-
decken der Ebene einfassen, riesize Besestigungswerke- Jede
Hügelgruppe ist ein schweres Fort, das m!t finsterem Auge
meilenweit die Ferne dnrchspäht. Jn der Stadt selbst
sieht man auf den Straßen eigentlich nur Soldaten. Hell-
blaue Baiern, dnnkelblaue Preußen, schwarze Württem-
berger, die selbst beim Spazierengehen auf der Esplanade
unwillkürlich den Marschtritt anschlagen. Wer männlichen
Geschlechts nicht zweicrlei Tuch trägt, ist Beamter. Die
gewerbetreibende Welt versckwindet ganz hinter den Ver-
tretern der Wehrkraft und der Verwaltung.

Langsam kriecht die Eisenbahn wie ein Maulwurf durch
einen Erdausschnitt, der von Geschützen bestickt und von
Wällen gedeckt ist, aus Metz heraus. Erst jenseits der
befestigten Hügelkette wagt der Eisenbahnzug mit Schnellig-
keit in's Freie hinaus zu fliegen. Nach anderthalbstündiger
Bahnfahrt brausen wir an den Spicherer Höhen, blutigen
Angedenkens von 1870, vorbei. Dort liegt ein Haus, das
noch allc Schußwunden aus jenem furchtbaren Sturme
der preußischen Kolonuen aufzuwcisen lnt- Der Besitzer
hat keine Ausbesserungen vornehmen lassen; die Mauern
zeigen noch sämmtliche Kugelspuren des grausigen Kampfes,
sie sind durchlöchert wie Erbsen-Siebe. Doch vorbei!

! Bercits taucht Saarbrücken-St. Johann auf. Ein end-
loses Thal mit einer endlosen Neihe qualmender Hochöfen.
Stundenlang rollt der Bahnzug an den großen Kohlen-
und Eisenwerken des Saargebietes vorüber- Der Qualm
der Essen lagert gleich schweren Gewitterwolken in der
Luft und färbt Himmel, Erde und Menschen schwarz. Jn
Metz nur Wehrstand, hier dagegen eine Folio-Seite aus
dem Riesenbuche des Nährstandes.

Und nun Heidelberg! Sonnig und wonnig wie eine

Femlleto« 1886.

Jnngfrau Elsabe.

Von A. Emmerich.

Kurze Zeit daraus lag Alles im Hanse Speerreuter in
gesundem und dauerhaftem Scklaf; nur in dem Gemrch,
wo Elsabe und Hilda schliesen, wachten noch zwei arme
Seelen im Widerstreit quälender Gedanken. Hilda hatte
die Gewohnheit, wenn allgemeine Stillc eingetrcten war,
den Kops aus den Kissen zu strecken und nach Elsabe
hinüberzulauschen- Athmete dann die Gcfährtin in ruhi-
gem Schlummer, so zog Hilda den Kopf wieder zurück
und brachte dem Andenkcn des braven Bernt Harrius ein
kleines Thränenopfer dar, bei welchen Libationes sie dann
gewöhnlich einschlief. Heute aber mochte Hilda noch so oft
hinüberlauern, immer sah sie Elsabe auf dem Lager sitzen,
die Wange an die Wand gelehnt, die Hände verschlungen
und dic Augen trost- und thränenlos in die dunkle Ecke
des Gemaches starrend.

„Was sie nur habcn mag?" dachte dic kleine Hilda.
„Seit wann hat Elsabe Zahnschmerzen? Es ist dies
Alles nur citel Trug und Gaukelei; sie hat einen andern
Kummer! Und gehört habe ich, daß sie mit Jemand im
Gartcn sprach, so wahr ich Hilda Hallige heiße! Auch
eines Mannes Schattcn sah ich; es war fast. wie ein
moskowitisch Gekleideter.... Und ern solcher gefällt ihr
besser als Bcrnt! Ach, Bernt!" Bei dieseni Namen öff-
neten sich alle Thränenschleusen in Hilda's Aeuglein; ste
zog die Decke über den Kopf und schluchzte in d!e Kissen,
so lcise, als ihr dies möglich war.

Es mochte um die fünstc Stunde sein, da entständ

ein großeS Gepolter vor der Tküre; es wurde heflig ge-
klopft und Herrn Samuels Stimme erklmg dazwischen,
offenbar in großcr Erreguug des Gemülhes:

„Stehet auf, Kinder, es hat sich etwas Erschröckliches !
zugetragen!"

„Dcr Moskowitcr ist vorhanden!" schrie Hilda gellend
a»f und suhr schleunigst mit dem Kops unter die Decke.
Elsabc sprang vom Lager, eilig wars si- ihr Morgcn-
gewand um und h«lf der zitternden Hilda, die vor Angst
nicht wußte, wo ste war, und nur immer vom Mosko-
witer sprach.

Als ste Lffneten, stand Herr Samuel draußen, gäuz-
lich vcrstört- Elsabe rückte ihm einen Sessel zu; er sank
darauf nieder, schnappte einige Male nach Luft und be-
gann:

„Es ist einc neue Heimsuchung über uns gekommeu!
— Gestern Abcnd scheint es Michkcl Rosipuu, dcm Nacht-
wächter, daß ein langer, schwarzer Kcrl hier herum ro-
dirct; meint Anfangs, es möchtc dies wohl gar der Gott-
scibeiuns selbst sein und erschrickt fast sehr. Nachher be-
dünkt es ihn aber, es möchte wohl eher ein Dieb oder
sonstiger Spionirer sein; nimmt also, zu besserer Sicher-
heit, noch zwei handfeste Stadtknechtc zu sich, und sie
laucrn dem Schwarzen nun auf. Der kommt dann auch
nach längerer Zeit wieder. Michkel Rosipuu stracks auf
ihn dar, ruft ihm, still zu stehen, und bedrohet ihn mit
der Helleparte. Der Mensch aber schlägt die Waffe zur
Seite und macht stch ans Laufen, und jetzt fehen sie, daß
es der russtschc Diener ist. Er wäre ihnen auch richtig
entkommen; denn er war flink, wie ein Aal; aber Jaan
Kickerpill, der eben in der nächsten Straße die Stunde
ansingen will, hört dm Rumor, fährt plötzlich hervor und
hält dem Laufenden den Spieß vor die Füße, also daß er

hinstürzt, und werfen sich nun alle Vier über ihn, haben
aber Mühe, sich zu behaupten, denn der Mensch wehrt
sich, wie der Leibhaftige selbst, und im Ringen reißt ihm
! einer die Vermummung herunter, und wer kommt zum
! Vorschein? Mein sauberer Neffe, Henning Buchholz!"

„Weh, Henning!" rief Elsabe entsetzt und rang die
Hände.

Dcr Vater sah sie mit zornigen Augen an:

„Und ich bestehe darauf, Du weißt von dem Allem,
ungerathencs Geschöpf! Du selbst hast ihn wohl gesehen,
gcstehe!"

Elsabe kniete vor dcm Vater nieder:

„Vcrzeihet, Herr Vater, dem ist allerdings so." Dar-
auf erzählte sie Alles, von der Liebcsbotschaft bis zu dem
Wiederschn im Garten, doch den Fluchtplan verschwieg sie,
aus Furcht, Henning zu schaden. „Und das sollet Jhr
auch wissen, Herr Vater", schloß ste, „daß mein Herz
nimmermehr von ihm lassen wird, bis daß es ini Tode
stille steht."

„Steh auf, Du Trotzkopf!" befahl der Vater. „Wahr-
lich, eine feine Grütze habt Jhr da eingerührt, und dem,
der sie auscssen muß, wird sie bitter schmecken. Henning
liegt im Thurm, und ist nicht abzusehen, wie er da her-
auskommen soll."

„Jch aber wriß, was ich thun muß, Herzvater. Jch
werds zu meinem Pathcn, dem Herrn Bürgermeister, hin-
gehn; und auch Jhr müsset kommen, Hsrr Vater, und
sür Henning bitten; denn er ist Eurer Schwester Bri-
gitten Sohn!"

„Gänzlich von Sinnen bist Du", brummte Speer-
reuter.

„Vater, ich bin vollkommen bei Sinnen; ich sehe Alles
deutlich, wie es kommen mutz. Dcr Pathe Bürgermeister

jugendfrische Schöne im hellsten Festesschmuck, überall ge-
ziert mit den grüßenden Wahrzeichen des Lehrstandes, so
schimmert die liebliche Neckarstadt an den Ausläufern des
Odenwaldes nns entgegen.

Heidelberg wie bist Du schön! selbst jetzt, wo man m
den Straßen vor Musensöhnen und Menschen kaum treten
kann, wo die Pserde der Trambahn sogar Couleurmützen
über den Ohren tragen und wo ich in der ersten Nacht
meiner Ankunft in einem Zwangsbett Strafe schlafen
mußte, das dem seligen Zwerg Perkeo zu klein gewesen
wäre. Wenn in Heidelberg die kleinen Kinder gefragt
werden, was sie einst werden wollen, so antwortcn d!e
Knaben: „Korpsstudent" und die Mädchen seufzen ver-
schämt: „Professors-Gattin". Jn dem lctzten Jahrzehnt
hat sich noch ein neuer Bcrufszweig herausgebillxt, der-
jenige der Pensions-Mama- Heidelberg ist die große Brüt-
anstalt für kleine Engländerinnen gcworden, die zu jungen
Ladies aufgepäppelt werden. Es sind durchschnittlich recht
artige Kinder, blonde Madonnenangesichter mit frommen
Augen, die sich gegen Himmel richten, um nicht die großen
Füße zu betrachten, mit welchen die angelsächsische Weib-
lichkeit nach dsm uncrsorschlichen Rathschlusse der Natur
das irdische Jammerthal zu durchwandeln hat.

Wenn sie in sanftem Gänsemarsch durch die schönen
Anlagen von Heidelberg ziehen, auf der Rückseite ihres
holden Jch's eine große roth-blaue Schleise, die sich auf
den Kleidern der älteren herausfordernd wie das Sct-
Georgskreuz in der brittischcn Königsflagge ausnimmt,
dann vervollständigen sie höchst ersreulich das Bild der
neuen deutsch-englischen Freundschaft. Denn auf der an-
dern Straßenseite bcwegen sich im gleichen Gänscmarsch
flotte dcutsche Studentcn, wslche jeden Augenblick mit pa-
triotischem Gefühl bereit sind, die deutsch-englische An-
nähsrungspolitik energisch und liebevoll weiter zu pflegen.

Augenblicklich ist Altheidelberg, das feine, einem großen
Ameisenhaufen vergleichbar- An allen Ecken und Enden
regt es sich von tausend betriebsamen Händen, dic der
Stadt den letzten Schmuck verleihen- Jn den Straßen sind
helle Birken und dunkele Tannenbäumchen aufgestellt, bis
zur äußersten Spitze der Dächer schlingen sich bunte Guir-
landen und Fahnen empor, während Tüncher und Maler
mit mächtigen Pinseln ganzen Hänserreihen fröhliche Gs-
sichter anstreichen. Dem altcn Stadtlömen auf dem Markte
wurde gestern der Schwanz neu vergoldet, eine festliche
Handlung, zn der sich halb Heidelberg in freudiger Be-
wunderung eingefunden halte. Noch niemals hatte der
pfälzische Löwe einen solch imponirenden Schweif.

Angenehmer ist es dem steinernen Herkules ergangen,
der bei der Heiliggeist-Kirche aus dem großen Brunnen
steht. Vier lebensgrotze nackte Damcn aus Majolika wur-
den ihm als quellenspendende Jungfrauen auf die Waffer-
röhren seines Laufbrunnens gesetzt- Als Tugendgürtel ihrer
kalten Herrlichkeit gegen schlechtc Witze der Studenten er-
hielt jede eine dicke Bauchbinde aus Stechpalmen und
Kalmus-

Die Spötter unter den Studenten meinen inzwischen:
die vier Jungsrauen sollien die vier Fakultäten versinn-
bildlichen mit ihrem Sprüchlein: „Anstaunen aber nicht
angreisen".

Von unterhaltender Mannigfaltigkeit sind die Erzeug-
zeugnisse >,er Jubiläums-Jndustrie. Festmedaillen, -Pho-
tographien, -Stöcke, -Fahnen u. s. w. übergehe ich als selbst-
verständliche Dinge. Mit dreifachem Erz gepanzert muß
vor allen Dingen der Leib des Trinkers sein, denn auf
ihn stürmen fünf verschiedenc Sorten Jubiläums-Cham-
pagner ein- Neckar-, Mosel- und Rheinweinsckte tragen
die Jubiläums-Mütze.

Uebler sreilich crgeht es dem Raucher. Wer kennt nicht
als nikotinhaltiger Mann den Ehrgeiz der Pfalz, mit der
Havannah konkurriren zu wollen. Mannheimer Fabri-
kanten haben den großen Wurf gewagt: Jubiläums-
Cigarren aus einhei'iiischem Kraut zu erzeugen. Ueber

wird uns verzeihen, wenn er sieht, daß es sich nur um
ein Paar herzbetrübte Liebesleute handclt und nicht unr
Verräthcr und Feinde der Stadt."

„Was, Deinen Liebeshandel willst Du vor Bürger-
meister und Rath kundgeben? Völlig schamlos bist Du
gcworden!" und Samuel Andreas schob die Tochter zornig
bei Seite und entfcrnte flch scheltend und brummend.

* *

Gerhardus Krompein, der Stadt Reval ehrbarer, acht-
barcr, hochgelahrter und wohlweiser Bürgermeister, saß in
seiner Amtsstube und war sehr übler Laune. Dazu hatte
er verschiedsne Ursachsn; einmal schmerzte ihn der rechte
Fuß, in dem sich heute wieder einma! ein böses Reißen
fcstgesetzt hatte, also daß er zum öfteren die schmerzende
Stelle rciben mußte, wobei er dann vor sich hin brummte:
„Schlimmer Handel, schlimmer Handel!" Zum Andern
war Gerhardus heute aus dem besten Schlummer geweckt
worden, eines Arrestanten wegen, dessen Sache versprach
ein allerdings über dic Maßen verdrießlicher Handel zu
wcrden, welcher verschiedenen Kontraria wegen der gut-
herzige und freundliche Herr heute etwas Mürrisches und
Verdrießlichcs in seinen Mienen hatte, beinah wie ein
grollender Kater.

Herr Gerhardns war, wie gesagt, Bürgermeister der
Stadt, und er verstand es, in Rath und Feld wohl zu
regieren, nur nicht in seinem eigenen Hause, wo ihm seine
Ehefrau Ursula größtentheils übcrmächtig war, also datz
die Reval'schen zu sagen pflegten, sie hätten drei Bürger-
meister, außer den zwei gewöhnlichen noch eincn dritten,
nämlich die Frau Ursula Krompeinin. Hcrr Gerhard
nannte sie: „meine Hausehre", und sie titulirte ihn
meistenthcils „Herr Bürgermeister", womit aber nicht ge-
sagt sein soll, daß sie dadurch besonderen Respekt und Gs-
 
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