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Valentin, Veit
Politisches, geistiges und wirtschaftliches Leben in Frankfurt am Main vor dem Beginn der Revolution von 1848/49 — Stuttgart: Union dt. Verlagsges., 1907

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https://doi.org/10.11588/diglit.71759#0044
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Frankfurt vor der Revolution

Tradition im behäbigen Spießbürgertum am stärksten zu seiu schien,
konnte sich auch die Umwandlung zum Bourgeois schnell vollziehen.
Die alte Opposition gegen die hohe Obrigkeit bedurfte nur einer
neuen, modern formulierten Begründung und eines starken äußeren
Anreizes um Radikalismus zu werden — doch ein Radikalismus
der Worte und das Geschreis, nicht der eigenen revolutionären Tat.
Die Grundanschauung dieses Durchschnittsbürgertums war wohl,
was sehr zu radikalen Liebhabereien stimmte, eine verwässerte
Aufklärung, die arbeitsfröhliche Diesseitigkeit beförderte. So war
ein Hilfsmittel zum nur selten umfassender werdenden geselligen
Vergnügen anch die Freimaurerei. Da gab es Spiel- uud
Tanzbelustigungeu — und die „Logenkränzchen" stellten keine
hohen Ansprüche an Rang, Stand und Geldbeutel. Auch die
würdige Stadtwehr stand niemals zurück, wenn es sich nm Be-
fördernng der Gemütlichkeit handelte. Jedes Korps — Weißbüsche,
Artillerie, Kavallerie, Jäger — gab jeden Winter feinen Ball in
Uniform.
Bizarre Gestalten hat der eigenständige Sondersinn dieses
unabhängig-trutzigen Bürgertums immer ausgebildet: besonders
die Vorsteher der alten städtischen Quartiere, die „Bürgerkapitäue",
repräsentierten diese derbe Ursprünglichkeit. Die Straßenoriginale,
die die ganze Jugend kannte, waren noch nicht ausgestorben: da
gab es einen kurzbeinigen, buckeligen Kerl, den alten Fischer aus
dem Steinernen Haus, der allgemein Fürst Blücher hieß. Auf
Lithographien im Historischen Museum ist er wiederholt dargestellt,
mit dem grauen Zylinder, dem grünen Leibrock und dem roten
Regenschirms. Auch tu den höheren Schichten fehlte es keineswegs
an merkwürdigen Sonderlingen. So bestand sogar ein Orden der
verrückten Hofräte, deren Mitgliedschaft der verschrobene Stifter
durch feierlich gewundene, lateinische Diplome zu verleihen pflegte.
Jügel, der davon berichtet (S. 234), selber ein Mann voll Schrullen
und sonderbarem Eigensinn, gehörte ebenfalls dazu.
Die geistige, besonders politische Nahrung wurde dem mittleren
und unteren Bürgertum durch farblose Lokalblätter vermittelt.
Da teilte das Frankfurter Journal „mit der größten Achtung

furt n. M.", 1905, das Emporwachsen des Frankfurter Dialektpoeten aus dem
urwüchsigen, charaktervollen Kleinbürgertum vortrefflich geschildert. Ich habe
noch oft Gelegenheit das Werk zu zitieren: es war mir für die ganze Arbeit
ein wertvoller Wegweiser.
Y Siehe Schrotzenberger, Francofurtensia (alphabetisches Lexikon),
unter „Fischer".
 
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