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Voigtländer, Emmy
Zur Gesetzlichkeit der abendländischen Kunst — Forschungen zur Formgeschichte der Kunst aller Zeiten und Völker, Band 5: Bonn, Leipzig: Kurt Schroeder, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.62975#0101
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wie sie gesehen wird, im unendlichen Raum und im Schöpfen aus dem
weiterflutenden unabgelenkten Lebensstrom.
Indem Fiedler und Hildebrand als die Rufgabe der Kunst die Klä-
rung der Anschaulichkeit, die Beruhigung durch die Erkenntnis hinftellen,
so stellen sie ihr Verhältnis zur klassischen Kunst als das des Menschen
überhaupt zur Kunst hin. Sie bringen zugleich, wenn die Kunst Erlösung
und Befreiung von einer verworrenen Wirklichkeit sein soll, ein Gefühls-
verhältnis hinein, das weder Grundlage der Renaissance, noch der nordi-
schen Kunst war, und ebenso wenig in der Beschäftigung Dürers mit
italienischen Theorien mitsprach. Sie setzen ein Leiden voraus, von
dem die Kunst weghelfen soll. Dieses Verhältnis ist in Wahrheit das
des RomantLkers zur Kunst und zur Wirklichkeit. Für den Typus
des klassischen Menschen ist die Kunst natürliches Ergebnis seines Welt-
erlebens in Harmonie. Oer Romantiker als ein neuer Typus dagegen
will hinweg von der Wirklichkeit, die ihn bedrückt. Einer der Wege, die
die Romantik sucht, ist der in die klassische Kunst, als Erlösung, als
Gegenbild seines Erlebens, als Flucht.
Diese Romantik ist noch nicht in der nordischen und deutschen Kunst,
auch nicht bei Dürer vorhanden. Wohl treten zwei Typen im Verhältnis
zur Wirklichkeit in der ganzen deutsch-germanischen Kunst deutlich aus-
einander. Oer eine ist der kraftvoller Bejahung der Wirklichkeit und
Hingabe an sie, der andere will über sie hinaus, um „den starken Druck,
unter dem die nordische Menschheit steht" (worringer), unmittelbar auch
in der Kunst zu entladen. Dies starke Element einer Wirklichkeitsfreude
sei nachdrücklich der einseitig nach dem pathologischen hin geratenen Zer-
legung des „gotischen" Menschen durch worringer gegenüber hervor-
gehoben. Bei ihm hat der nordische Mensch „in der erhabenen Pathetik
der Gotik, in ihrer unnatürlich krampfartigen Anspannung, in ihrem
mächtigen Empfindungsrausch, seine innere Misere, sein seelisches Un-
befriedigt'sein zu übertönen gesucht". (S. 77.) Das ist der nordische
Mensch von der Perspektive der Klassik aus gesehen, von dem Roman-
tikerverhältnis zur Klassik, durch den ein Zwiespalt in
pathologischem Zinne erst hergestellt, und auf die Gotik übertragen wird.
Spricht sich nicht aber in der Gotik eine Art Mensch aus, der wohl alles
Furchtbare, Chaotische der Wirklichkeit sieht, aber doch auf sich nimmt,
ihr nicht entflieht, sondern sich alles Drucks, aller Fülle durch unmittel-
bare Entladung entledigt? „Ist Pessimismus notwendig das Zeichen
des Niedergangs, Verfalls, des Mißratenseins, der ermüdeten und ge-
schwächten Instinkte? Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine in-
tellektuelle Vorneigung für das harte, Schauerliche, Böse, problematische
des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle
 
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