Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Volkmann, Ludwig
Grundfragen der Kunstbetrachtung: die Erziehung zum Sehen, Naturprodukt und Kunstwerk, Grenzen der Künste — Leipzig: Karl W. Hiersemann, 1925

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.67406#0064
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
roten Farbfleck etwa im Gegensatz zu einer gelben Zitrone auffassen,
und sich absolut nicht um die Details seiner Freßwerkzeuge kümmern,
die der Zoologe gerade besonders genau wiedergeben mußte. —
Es sind vielleicht triviale und gar zu naheliegende Beispiele, die hier
herangezogen wurden. Allein sie erfüllen ihre Aufgabe, die elementarsten
Grundlagen unseres Themas zu klären, wenn sie zeigen: schon solche
sachliche Abbildungen geben nicht die Natur wieder wie sie ist, sondern
bedürfen der geistigen Verarbeitung. In anderem und weit höherem
Maße aber ist das Verhältnis des Künstlers zur Natur ein geistiges, nicht
nur ein mechanisches. Auch er muß aus dem Naturprodukt, das er vor
Augen hat, das Nebensächliche ausscheiden und das Wesentliche hervor-
heben, dieses für ihn Wesentliche aber ist eben das, was wir das Künst-
lerische nennen, und es ist, wenn auch bei jedem Künstler und
jeder Aufgabe individuell verschieden, doch grundsätzlich stets ein
Gleichartiges. Mit klarerem und schärferem Auge als andere Menschen
erfaßt der Künstler die Welt um ihn her, mit stärkerer und reinerer
Empfindung verarbeitet er in seinem Inneren die empfangenen Ein-
drücke. So vermag er auch uns eine reichere und tiefere Anschauung
zu erwecken, als wir selbst sie uns zu schaffen vermöchten, und wie die
Wissenschaft unser begriffliches VorstellungsVerhältnis zur Welt klärt,
so klärt er unser anschauliches Verhältnis zu ihr. Das letzte Geheimnis
des künstlerischen Schaffens wird sich freilich wohl niemals mit dem
Verstände ergründen oder mit exakten Worten definieren lassen; dem
Künstler aber mit sehendem Auge bei seinem Schaffen zu folgen wird
uns noch immer dem Verständnis am nächsten bringen, denn: wer
den Künstler will verstehn, muß in Künstlers Lande gehn. Daß es über-
haupt neben der materiellen eine künstlerische Betrachtungsweise der Welt
gibt, dürfen wir also, ohne nach dem Warum zu fragen, als etwas Ge-
gebenes hinnehmen, und wollen nur im einzelnen untersuchen, in welchem
Verhältnis deren Äußerungen zu den Produkten der Natur selbst stehen.
Wir wollen prüfen, ob und weshalb wirklich jedes echte Kunstwerk eine
völlige Umwertung der Natur bedeutet, und welches die mannigfaltigen
Wege sind, die der Künstler je nach der Art des Werkes und nach seiner
eigenen Individualität hierbei einschlägt.

48
 
Annotationen