dasmodernPhantastischerealistischer:
die Wunderwesen der alten Fabel gibt
es nicht, aber die Empfindungswunder,
die wir in den Farben eines Gemäldes
spüren, sind wirklich. Daher kommt
es, dass moderne Bilder oft ebenso rea-
listisch wie wunderbar erscheinen.
Für den Maler EXISTIERT das,
was er malt, und ebenso für diejenigen
Beschauer, die dem Maler innerlich
verwandt sind, wenigstens insofern, als
grosse Erregbarkeit sie in den Stand
setzt, ihm nachzuempfinden. Auch
kann man bemerken, dass modernen
Bildern und Büchern gegenüber leiden-
schaftlich Partei genommen wird: den
einen sind sie Offenbarungen, mehr
aussprechend, u. zw. tiefer, wahrer, ge-
treuer, als je vorher in der Kunst ge-
schah, den anderen sind sie unverständ-
lich, Blödsinn oder Ziererei.Gewiss sind
nicht alle modernen Kunstwerke echt;
da es keinen Massstab gibt für die
Wahrnehmungen, die jeder einzelne in
seinem Innern macht, hat die Willkür
ungeheuren Spielraum. Schwindeleien
und Nachahmungen sollen aber das
Echte nicht entwerten.
Nun gibt es aber viele
moderne Kunstwerke, die
zwar den Eindruck des
Echten, aber auch den des
Kranken machen. Und
man könnte fragen, ob
überhaupt die unverhält-
nismässig grosse Entwicke-
lung des Nervenlebens ge-
sund sei? Grössere Voll-
kommenheit herrschte al-
lerdings, wenn der Mensch
sich harmonisch, nämlich seine Natur
und seinen Geist gleichzeitig entwickel-
te. Nur unter solchen Menschen wer-
den die Künstler sein, die das ganz
GrosseundDauerndeschaffen. Sie sind
aber selten. Und die Hervorbringungen
der anderen, die ein einseitig gesteiger-
tes Leben zu Künstlern macht, werden
schneller einen grösseren und enthu-
siastischeren Kreis von Anhängern fin-
den, weil auf hoher Stufe die Halben
und Kranken zahlreicher sind, als die
Ganzen.
Dass die phantastische oder roman-
tische Kunst überhaupt berechtigt, ja
dass sie im Grunde die einzig berech-
tigte ist, darüber kann kaum ein Zwei-
fel sein. Wie bald würde der Mensch
der Erde überdrüssig geworden sein,
wenn er sie nicht durch das bunte
Glas seiner Phantasie betrachtete. Nur
deshalb ist die Natur ewig jung, ewig
neu, weil der ewig wechselnde Mensch
sie anschaut. So sagt Schiller, von dem
man doch sicher sein kann, dass er kein
Verständnis für die sogenannte moder-
ne Kunst gehabt hätte:
Alles wiederholt sich stets im Leben,
Ewig jung bleibt nur die Phantasie,
Was sich nie und nimmer hat begeben,
Das allein veraltet nie.
Also soll man in der Kunst nicht
fragen, ob etwas wirklich in der Natur
vorkomme; auch nicht, ob es wirklich
vorkommen könne; sondern ob es
wirklich im Innern des Menschen vor-
kommen könne. Wenn das ist, gehört
es deshalb allein noch nicht der Kunst
an, aber es KANN ihr doch ange-
hören.
Kunstwerke der Art, an
denen hauptsächlich das
Innere des Menschen An-
theil hat, geben uns nicht
eine bestimmte Ansicht des
Lebens, nicht ein Stück
Natur, das wir wegen
seiner Schönheit, Treue
oder Eigenart gern in uns
aufnehmen. Ihr eigent-
licher Wert besteht darin,
Medium zu sein für das
Jenseits, wenn man die geheimnisvolle
Innenseite der Welt so nennen will.
Sie haben etwas von der Kraft der
Springwurzel im Märchen, die dem,
der sie findet, die Erde mit ihren
Schätzen aufschliesst. Und im Mär-
chen sind es auch immer nur wenige
Auserlesene, die Lieblinge der guten
Geister, die die seltene Wurzel ent-
decken und in deren Hand sie Wunder
thut; die anderen treten sie als ein
nutzloses Kraut mit Füssen.
Dr. RICARDA HUCH.
die Wunderwesen der alten Fabel gibt
es nicht, aber die Empfindungswunder,
die wir in den Farben eines Gemäldes
spüren, sind wirklich. Daher kommt
es, dass moderne Bilder oft ebenso rea-
listisch wie wunderbar erscheinen.
Für den Maler EXISTIERT das,
was er malt, und ebenso für diejenigen
Beschauer, die dem Maler innerlich
verwandt sind, wenigstens insofern, als
grosse Erregbarkeit sie in den Stand
setzt, ihm nachzuempfinden. Auch
kann man bemerken, dass modernen
Bildern und Büchern gegenüber leiden-
schaftlich Partei genommen wird: den
einen sind sie Offenbarungen, mehr
aussprechend, u. zw. tiefer, wahrer, ge-
treuer, als je vorher in der Kunst ge-
schah, den anderen sind sie unverständ-
lich, Blödsinn oder Ziererei.Gewiss sind
nicht alle modernen Kunstwerke echt;
da es keinen Massstab gibt für die
Wahrnehmungen, die jeder einzelne in
seinem Innern macht, hat die Willkür
ungeheuren Spielraum. Schwindeleien
und Nachahmungen sollen aber das
Echte nicht entwerten.
Nun gibt es aber viele
moderne Kunstwerke, die
zwar den Eindruck des
Echten, aber auch den des
Kranken machen. Und
man könnte fragen, ob
überhaupt die unverhält-
nismässig grosse Entwicke-
lung des Nervenlebens ge-
sund sei? Grössere Voll-
kommenheit herrschte al-
lerdings, wenn der Mensch
sich harmonisch, nämlich seine Natur
und seinen Geist gleichzeitig entwickel-
te. Nur unter solchen Menschen wer-
den die Künstler sein, die das ganz
GrosseundDauerndeschaffen. Sie sind
aber selten. Und die Hervorbringungen
der anderen, die ein einseitig gesteiger-
tes Leben zu Künstlern macht, werden
schneller einen grösseren und enthu-
siastischeren Kreis von Anhängern fin-
den, weil auf hoher Stufe die Halben
und Kranken zahlreicher sind, als die
Ganzen.
Dass die phantastische oder roman-
tische Kunst überhaupt berechtigt, ja
dass sie im Grunde die einzig berech-
tigte ist, darüber kann kaum ein Zwei-
fel sein. Wie bald würde der Mensch
der Erde überdrüssig geworden sein,
wenn er sie nicht durch das bunte
Glas seiner Phantasie betrachtete. Nur
deshalb ist die Natur ewig jung, ewig
neu, weil der ewig wechselnde Mensch
sie anschaut. So sagt Schiller, von dem
man doch sicher sein kann, dass er kein
Verständnis für die sogenannte moder-
ne Kunst gehabt hätte:
Alles wiederholt sich stets im Leben,
Ewig jung bleibt nur die Phantasie,
Was sich nie und nimmer hat begeben,
Das allein veraltet nie.
Also soll man in der Kunst nicht
fragen, ob etwas wirklich in der Natur
vorkomme; auch nicht, ob es wirklich
vorkommen könne; sondern ob es
wirklich im Innern des Menschen vor-
kommen könne. Wenn das ist, gehört
es deshalb allein noch nicht der Kunst
an, aber es KANN ihr doch ange-
hören.
Kunstwerke der Art, an
denen hauptsächlich das
Innere des Menschen An-
theil hat, geben uns nicht
eine bestimmte Ansicht des
Lebens, nicht ein Stück
Natur, das wir wegen
seiner Schönheit, Treue
oder Eigenart gern in uns
aufnehmen. Ihr eigent-
licher Wert besteht darin,
Medium zu sein für das
Jenseits, wenn man die geheimnisvolle
Innenseite der Welt so nennen will.
Sie haben etwas von der Kraft der
Springwurzel im Märchen, die dem,
der sie findet, die Erde mit ihren
Schätzen aufschliesst. Und im Mär-
chen sind es auch immer nur wenige
Auserlesene, die Lieblinge der guten
Geister, die die seltene Wurzel ent-
decken und in deren Hand sie Wunder
thut; die anderen treten sie als ein
nutzloses Kraut mit Füssen.
Dr. RICARDA HUCH.