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Vereinigung Bildender Künstler Österreichs Secession [Hrsg.]
Ver sacrum: Mittheilungen der Vereinigung Bildender Künstler Österreichs — 1.1898

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Heft 12 (Dezember 1898)
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https://doi.org/10.11588/diglit.6363#0403
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VER SACRUM.

Ygraine: Fürchte dich nicht, ich bin da!...

Tintagiles: O! ich höre, Schwester Ygraine!...
Zieh' an! Zieh' an! Du musst ziehen! Sie kommt!...
wenn du ein wenig- öffnen könntest... ein klein wenig ...
schau ich bin so klein...

Ygraine: Ich habe keineNägel mehr.Tintagiles!!!
Ich habe gezogen, habe gestossen,hab' geschlagen!... hab'
geschlagen! ... Sie schlägt wieder und versucht die unbewegliche
Thüre zu schütteln.) Ich habe zwei Fäuste, die todt sind...
Weine nicht... Es ist Eisen ...

Tint agiles isehl'iohzt verzweifelt): Du hast nichts, um
zu öffnen, Schwester Ygraine ? ... gar nichts ? ... und ich
könnte hindurch, denn ich bin so klein, so klein ... du
weisst ja ...

Ygraine: Ich habe nichts als meine Lampe, Tinta-
giles... da! da!.. (Sie schlägt mit ihrer thönernen Lampe, die
erlischt und zerbricht, mit heftigen Schlägen an die Pforte.) O! . ..
Alles ist schwarz auf einmal!... Tintagiles, wo bis du?
O! höre, höre!... Kannst du nicht von innen öffnen?

Tintagiles: Nein,nein,es ist nichts da... Ich fühle
gar nichts ... Ich sehe die kleine helle Ritze nicht mehr...

Ygraine: Was hast du denn, Tintagiles? Ich höre
fast nicht mehr ...

Tintagiles: Schwesterlein, Schwester Ygraine...
Es ist nicht mehr möglich...

Ygraine: Was ist, Tintagiles? . . . Wohin gehst
du ? ...

Tintagiles: Sie ist da!... Ich habe keinen Muth
mehr. — Schwester Ygraine, Schwester Ygraine!... Ich
fühle sie!...

Ygraine: Wen? ... Wen? ...
Tintagiles: Ich weiss nicht
Aber es ist nicht mehr
möglich! . . . Sie . . .
sie fasst mich an der
Kehle ... Sie hat die
Hand an meine Kehle
gelegt... O! o! Schwe-
ster Ygraine, komm'
her...

Ygraine:Ja, ja!...
Tintagiles: Es ist
so schwarz!...

Ygraine: Schlage
um dich, wehre dich,
zerreisse sie!... Hab'
keine Angst... Einen
Augenblick! . . . Ich
bin da!... Tintagiles?
. . . Tintagiles! Ant-
! ... Zu

Ich sehe nicht..

worte mir
Hilfe!... Wo bist du?
... Ich werde dir hel-

fen... umarme mich... durch die Thüre durch... hier ...
hier...

Tin tag iles sehr schwach : Hier... hier!... Schwester
Ygraine !...

Ygraine: Hier, hier gebe ich Küsse, du hörst es?
Noch! noch!...

Ti n t a gi 1 e s (noch schwächer) s Ich gebe auch Küsse ...
Hier... Schwester Ygraine!... Schwester Ygraine!... O!...
( Man hört das Fallen eines kleinen Körpers hinter der eisernen Pforte.

Ygraine: Tintagiles!... Tintagiles!... Was hast
du gethan ? ... — Gebt ihn zurück! Gebt ihn zurück!...
Um Gotteswillen gebt ihn zurück!... Ich höre nichts mehr.
— Was macht Ihr mit ihm ? Thut ihm nichts zuleide, nicht
wahr ? ... Er ist nur ein armes Kind!... Er widersteht
nicht... Seht, seht ... ich bin nicht böse ... Ich liege auf
beiden Knien ... Gib ihn uns wieder, ich bitte dich!...
Nicht für mich allein, du weisst es ... Ich werde alles thun,
was man verlangt... Ich bin nicht schlecht, Ihr seht...
Ich flehe Euch an mit gefalteten Händen ... Ich hatte Un-
recht ... Ich unterwerfe mich ganz, du sieht es wohl. . .
Ich habe alles verloren, was ich hatte . . . Bestraft
mich anders ... Es gibt soviel Dinge, die mich mehr
schmerzen könnten ... wenn du es liebst, Schmerzen zu
bereiten... Du sollst sehen ... Aber dieses arme Kind hat
nichts gethan... Was ich gesagt habe, ist nicht wahr ...
aber ich wusste nicht . . . Ich weiss wohl, Ihr seid sehr
gut... Man muss wohl schliesslich verzeihen !.. Er ist so
jung, er ist so schön und er ist so klein. . . Ihr seht, es ist
nicht möglich! ... Er legt seine kleinen Hände um Euern
Hals, seinen kleinen Mund auf Euern Mund; und Gott
selbst kann nicht widerstehen ... Ihr werdet öffnen, nicht

wahr? . . . Ich ver-
lange fast nichts . . .
Ich soll ihn nur einen
Augen blick kriegen,
nur einen ganzkleinen
Augenblick! . . . Ich
erinnere mich nicht...
Du begreifst . . . Ich
hatte nicht Zeit... Es
braucht fast nichts,
dass er hindurch-
schlüpft ... Es ist nicht

schwer . . . (Langes,
unerbittliches Schweigen. I
—■ Ungeheuer! . . .
Ungeheuer! . . . Ich

speie

Für V. S. gez. von
Fernand Khnopff.

(Sie s.nkt nieder und fährt
fort zu weinen, die Arme
in der Finsternis auf d.e
Pfoite gebrei:et.

ENDE.

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