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Vereinigung Bildender Künstler Österreichs Secession [Hrsg.]
Ver sacrum: Mittheilungen der Vereinigung Bildender Künstler Österreichs — 2.1899

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Heft 3 (März 1899)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8876#0086
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gestern und übermorgen, denn heute und morgen
ist ja nur eine Uebergangsepoche — dass einst
Ideenarmut und Schablone geradezu geheiligt
waren und der Kühne und Geniale keine Aus-
sicht hatte „Professor" zu werden, während jetzt
gerade das Schematische und Konventionelle, das
so leicht zu ödem Geflunker führt, prinzipiell ver-
pönt ist und der Schwindler und Spekulant sich
eben nur einschleichen und per nefas breit machen
kann, indem er die
allen eingeräumte
Freiheit miss-

STUDIE. braucht. Früher

KREIDE- vermochte ein
ZEICHNUNG. Phraseur und
Manierist sogar
kunsthistorische
Bedeutung zu ge-
winnen, heute
kann er höchstens
vorübergehend in
die Mode kom-
men. Eine Mode
aber — und sei sie
auch die albernste
— kann zwar im
Augenblicke eine
gewisse Verwir-
rung anrichten,
auf die Dauer ist
sie doch ohnmäch-
tig. Eine Mode
wird im schlimm-
sten Falle von
einer andern ab-
gelöst, die Ent-

wickelung im grossen vermag sie weder zu fördern
noch zu hemmen. Vor Moden war die Kunst
niemals sicher. Am wenigsten zu einer Zeit, in
der die starre Regel und knöcherne Disciplin so
kunstfeindlich auf uns lastete, dass wir nur zu sehr
geneigt waren, jede kleine Abweichung von der
Tradition auch schon für die Kundgebung eines
Originalgenies zu halten, und oft nicht merkten,
wie sich doch nur die Seichtigkeit auf solche Art
drapierte und maskierte. Dagegen ist zu hoffen,
dass die moderne Kunst mit ihrem Principe der
Wahrhaftigkeit, welche auch gegen Regeln Ver-
stössen darf, unsere Augen und unser Gefühl immer
besser schulen wird, bis wir endlich im stände

sind, echt und unecht auf den ersten Blick von-
einander zu unterscheiden. Wenn täglich neue
Formen und neue Innenwelten mit dem Ansprüche
auf Beachtung und Würdigung uns entgegentreten,
so müssen wir ja allmählich die Vorurteile ab-
streifen, die unser Urteil bisher so ängstlich und
unsicher machten, und müssen schliesslich dahin
gelangen, dass wir dem Genie nicht mehr Unrecht
thun können, aber auch gegen Gaukler und Schelme

keine Nachsicht
mehr haben.

Je excentrischer
die Künstler sich
gebärden, je öfter
sie uns in Erstau-
nen und Verblüf-
fung setzen, desto
rascher wird unser
leibliches und gei-
stiges Auge sich
gewöhnen, durch
die Aeusserlich-
keiten hindurch
den Wesenskern
zu erfassen und
inmitten der reich-
sten Fülle von
Bildern und Ge-
stalten sich mühe-
los zurecht zu
finden.

Noch ein an-
derer grosser Vor-
teil aber ist mit

dem kleinen
Nachteile ver-
bunden, den die schrankenlose Freiheit in der
Kunst vielleicht im Gefolge haben mag. Diese
Freiheit ermöglicht auch dem kleinen Talente
eine früher ungeahnte, reiche und volle Thätig-
keit. Alle, die der älteren Richtung sozusagen
sich selbst zum Opfer bringen mussten, die den
„klassischen" und monumentalen Aufgaben, die
da mit Vorliebe gestellt wurden, durchaus nicht
gewachsen waren, die aber doch etwas Bestimmtes
und Eigenartiges auszusprechen hatten, das sich
nur leider im Rahmen der Tradition und der
Schule nicht klar und erschöpfend aussprechen
liess, alle diese kommen jetzt zur Entfaltung ihrer
Eigenart: sie können und dürfen jetzt sagen, was
 
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