THEO VAN RYSSEL-
BERGHE = ABEND-
GLÜHEN = 1897
Sächsische Schweiz — aber werden grossen Italiener
auf Rodin bezog-, musste beide sehr wenig oder sehr
gut gekannt haben. Michelangelo bedeutet den
Gipfel einer ganz grossen Zeit, Rodin einen Höhe-
punkt vielleicht, oder gewiss einen suchenden
unschlüssigen. Dass man das Tasten und die
mangelnde Entschlossenheit seiner Zeit bei ihm
vergisst, dass er neu und stark vor uns tritt und
auch mit den grossen Vorgängern verglichen noch
etwas bedeutet, das ist eines der Zeichen seiner selb-
ständigen Grösse. Mit Michelangelo ist ihm von
vornherein nichts gemein, und soll er ihm denn
etwas verdanken, so doch höchstens das Bewusst-
sein jener letzten höchsten Freiheit, mehr als der
Natur nachzuschaffen, mit ihr um die Wette schaffen
zu können. In dieser Herrschaft über den Stoff be-
gegnen sie sich allerdings, aber liegt da nicht der
Punkt, wo alle Grossen sich berühren? Bei allem
Citieren und Vergleichen verliert man vor dem Jahr-
hunderte durch geschätzten und in der Schätzung
gesicherten zu leicht den aus den Augen, dessen
Bild man gewinnen will, und Rodin giebt gerade
genug, um auch allein zu gelten. —
Die Ausstellung machte es wohl dem Betrachter
nicht leicht mit ihrem weissen, lichtlosen Gyps,
gerade bei ihm, der seine Schöpfungen wie kaum
einer für ihr Material denkt, Bronze und Marmor.
Da fehlt der Glanz des Metalls, das belebende
Spiel der Lichter neben dem tiefen Schatten, da
verliert sich die Transparenz und Körnigkeit des
Marmors, das schmeichelnde Fluten des Lichts
über die duftig behandelte wie athmende Ober-
fläche, kurz alles, was Rodin zu seiner freilich
souverainen Formenherrschaft noch an Mitteln
einzusetzen hat. — Und doch, bei alledem trifft
man' hier auf etwas lang vermisstes. Wer seine
Kunst plastischen Impressionismus genannt hat,
traf nur eine Seite, die technische und Rodin's Wert
liegt auch im grossen Wollen. Er ist ein Künst-
ler von einem Gedankenflug, wie Frankreich ihn
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BERGHE = ABEND-
GLÜHEN = 1897
Sächsische Schweiz — aber werden grossen Italiener
auf Rodin bezog-, musste beide sehr wenig oder sehr
gut gekannt haben. Michelangelo bedeutet den
Gipfel einer ganz grossen Zeit, Rodin einen Höhe-
punkt vielleicht, oder gewiss einen suchenden
unschlüssigen. Dass man das Tasten und die
mangelnde Entschlossenheit seiner Zeit bei ihm
vergisst, dass er neu und stark vor uns tritt und
auch mit den grossen Vorgängern verglichen noch
etwas bedeutet, das ist eines der Zeichen seiner selb-
ständigen Grösse. Mit Michelangelo ist ihm von
vornherein nichts gemein, und soll er ihm denn
etwas verdanken, so doch höchstens das Bewusst-
sein jener letzten höchsten Freiheit, mehr als der
Natur nachzuschaffen, mit ihr um die Wette schaffen
zu können. In dieser Herrschaft über den Stoff be-
gegnen sie sich allerdings, aber liegt da nicht der
Punkt, wo alle Grossen sich berühren? Bei allem
Citieren und Vergleichen verliert man vor dem Jahr-
hunderte durch geschätzten und in der Schätzung
gesicherten zu leicht den aus den Augen, dessen
Bild man gewinnen will, und Rodin giebt gerade
genug, um auch allein zu gelten. —
Die Ausstellung machte es wohl dem Betrachter
nicht leicht mit ihrem weissen, lichtlosen Gyps,
gerade bei ihm, der seine Schöpfungen wie kaum
einer für ihr Material denkt, Bronze und Marmor.
Da fehlt der Glanz des Metalls, das belebende
Spiel der Lichter neben dem tiefen Schatten, da
verliert sich die Transparenz und Körnigkeit des
Marmors, das schmeichelnde Fluten des Lichts
über die duftig behandelte wie athmende Ober-
fläche, kurz alles, was Rodin zu seiner freilich
souverainen Formenherrschaft noch an Mitteln
einzusetzen hat. — Und doch, bei alledem trifft
man' hier auf etwas lang vermisstes. Wer seine
Kunst plastischen Impressionismus genannt hat,
traf nur eine Seite, die technische und Rodin's Wert
liegt auch im grossen Wollen. Er ist ein Künst-
ler von einem Gedankenflug, wie Frankreich ihn
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