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len „um die Ecke gucken", um zu sehen, was dahinter ist, und ob
es nicht am Ende nur Vorderseite sei, was man wahrnimmt.
Und nicht umsonst hat Dürer den starken Tiefenftoß mit den
dunkel beschatteten Holzlatten oben in die leere Luft geführt:
Auseinanderftrebendes sollte zusammengehalten werden. Ganz
einwandfrei war also seine perspektivische Kunst in der Praxis
noch nicht, sie wurde es in jenen Jahren erst allmählich. Aber
wichtiger noch erscheint das Verhältnis von Figur zu Raum.
Nachdem anfangs, in den neunziger Jahren, die Figuren zu sehr
dominieren, nimmt er sie jetzt, wo das Raumproblem die Haupt-
sache werden soll, zu klein, als das; sie eine formale Beziehung
zum Raume haben konnten, und erst in einigen Blättern der ge-
zeichneten „Grünen Passion" (die m. E. doch wohl von seiner
Hand ist) und in den besseren Leistungen aus dem in Holz ge-
schnittenen „Marienleben" findet er das künstlerische Gleichge-
wicht. Wie tastend seine Kenntnis der Raumperspektive damals
noch war, kann man innerhalb derFolge des Marienlebens selber
mit Leichtigkeit feststellen. Neben geometrisch noch etwas verfehlten
2nnenräumen, wie dem auf der Anbetung der Könige, steht der
tadellos konstruierte auf der Darstellung im Tempel. 2hn hat
Dürer nicht selbständig gefunden, sondern einem französischen
Perspektivbuche entnommen. Wie wenig indessen die Richtigkeit
allein ausmacht, sieht man gerade an diesem Blatt: wissenschaft-
lich ist es richtig, künstlerisch wirkt es falsch — Dürer wußte da-
mals noch nicht, daß die große tragende Säule im Vordergründe
links auf der anderen Seite eine Art von Pendant erfordert für
das dem Menschen eingeborne Gleichgewichtsgefühl. Erst wäh-

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