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Die Werkkunst — 1.1905/​1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.57914#0472
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DER MODERNE BUCHEINBAND UND SEINE VORGÄNGER

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haben, ist das Produkt einer Jahrhunderte
langen Entwicklung, an der Orient und
Occidentmitgearbeitethaben. Man könnte
in diesem Sinne den sogenannten bürger-
lichen Bucheinband vom 16. Jahrhundert
ab als ein Kompromiß zwischen diesen
beiden Elementen bezeichnen, da er in der
Form mit seinen festen Deckeln noch vor-
wiegend unter dem Einfluß des mittel-
alterlichen Kirchenbandes steht, das Ma-
terial der Decken aber und das Prinzip
der dekorativenAusgestaltung vomOrient
herübergenommen ist.
Wir können weder den abendländischen
Kirchenband noch den orientalischen Ein-
band bis zu ihrem gemeinsamenUrsprunge
verfolgen, wohl aber feststellen, daß sie
vonden uns erreichbaren Anfängen an zwei
ganz gesonderte Typen bilden, deren sti-
listische Eigentümlichkeiten grundsätz-
lich von einander verschieden sind.
Der kirchliche Einband der frühchrist-
lichen Epoche geht von den Pugillarien
aus, die sowohl bei den Römern als auch
bei den Griechen für kurze schriftliche
Mitteilungen, Briefe, aber auch für Rechts-
urkunden, wie besonders das feierliche
schriftliche Testament, und endlich für
Adressen an hohe kirchliche und welt-
liche Würdenträger (liturgische undKon-
sular-Diptychen) in Gebrauch standen. Es
sind dies zwei durch Ringe oder Schar-
niere mit einander verbundene, auf den
Innenseiten mit Wachs überzogene Holz-
oder Elfenbeintäfelchen, die dann, beson-
ders wenn es sich um feierliche Adressen
handelte, auf den Außenseiten mit reichem
Schnitzwerk verziert wurden, das in den
meisten Fällen die Bestimmung einer
Adresse und ihren Inhalt illustrierte. Der
abendländische Kircheneinband geht also
auf die zum Zusammenklappen eingerich-
tete hölzerne oder elfenbeinerne Schreib-
tafel zurück, die sich allmählich zum
schützenden Deckel für die dazwischen
gelegten Blätter entwickelt.
Dem festen Material des abendländi-
schen Bucheinbandes entspricht daher
auch seine mehr auf plastische Wirkung
berechnete Dekoration, wie die kräftig
modellierten Metallbeschläge, die Verzie-
rung mit hoch gefaßten Edelsteinen und
Gemmen oder das Einlegen von oft in
Hochrelief geschnitzten Elfenbeinplatten
in den Buchdeckel. Der Zusammenhang
mit dem klassischen Pugillarien oder Dip-
tychen bedingt also noch in einer anderen
Weise den Stil des Kircheneinbandes. Sie
dienten nicht bloß als Vorbild, sondern
fanden in späterer Zeit auch zur Deko-
rierung der PrachtbändeVerwendung, in-
dem sie in den starken hölzernen Vorder-
deckel des Buches eingelassen wurden, der
sie schützend mit seinen hervorspringen-

den Rändern gleieh einem Passepartout
als Rahmen umgab. Es entstand dadurch
das Motiv des viereckigen Mittelstücks und
des umgebenden Rahmenwerks, welches
nicht bloß im ganzen Mittelalter, sondern
auch zum Teil noch in der neueren Zeit
herrschend blieb und auch dort, wo das
Elfenbein, der Edelstein und das Metall
durch den schlichten Leder- oder Perga-
mentüberzug ersetzt wurde, weiter lebte.
Die teilweise figuralen, teilweise orna-
mentalen, aber stets reliefartighervortre-
tenden Blindpressungen, das reiche Rah-
menwerk,das ein oder mehrere viereckige
Mittelstficke umschließt, zeigen noch deut-
lich den Stil des frühmittelalterlichen
Kircheneinbandes, der in jenen massen-
haft vorkommenden, in den Klosterbuch-
bindereien noch bis in den Anfang des
19.Jahrhunderts hergestellten weißen Per-
gamentbänden mit erhabener Blindpres-
sung seine letzten Ausläufer findet.
Ganz anders beim orientalischen Ein-
band, dessenürsprung wohl in einer Mappe
zu suchen ist, die die vermutlich anfäng-
lich noch losen Blätter des Manuskripts
umschloß. Erst in der Folgezeit wird sich
dann aus dieser Mappe der Bucheinband
entwickelt haben, worauf auch schon die
beim orientalischen Band stets wieder-
kehrende übergeschlagene Klappe deutet.
In diesem Ursprung ist vor allem auch der
Grund zu suchen, warum der Buchdeckel
nicht bloß auf der Außen- sondern auch auf
der Innenseite dekoriert ist. Der Charakter
des schmiegsamen, weichen Materials der
Mappe (der orientalische Einband besteht
aus dünner Pappe mit einem Überzug von
dünnem, sorgfältig ausgeschärftem Leder)
drückt sich in der Dekoration insofern aus,
als hier nicht wie beim abendländischen
kirchlichen Einband eine plastische, son-
dern eine reineFlächenwirkung angestrebt
ist, die durch eine entsprechende Farben-
wirkung erhöht und unterstützt wird. Die
Motive sind hier nicht von der Elfenbein-,
Metall- oder Holzskulptur, sondern dem
Gewebe oder auch zuweilen der farben-
prächtigen orientalischen Wanddekora-
tion entlehnt. Ein reiches lineares oder
vegetabilisches Ornament, nach außen nur
durch eine Randleiste begrenzt, überzieht
hier den ganzenSpiegel, oder die Mitte wird
wie beim Teppich durch ein orientalisches
Spitzoval angedeutet, um das sich die übri-
gen Motive stets abwechselnd in vollster
Linien- und Farbenharmonie gruppieren.
Kurz, während der kirchlich-abendlän-
dische Einband in der Behandlung des Le-
ders auf rein plastische, in der Anordnung
des Ornaments auf vorwiegend lineare
architektonische Wirkung ausgeht, strebt
der orientalische nach rein malerischer
Flächenwirkung, die ihre höchsten Tri-
 
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