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Kommentare zu S. 1-132
eben so wenig, und wenn es bei der Natur gemäß an solcher Stelle mehr als anderswo faltig erscheinen mußte, so genügte es ihnen,
anstatt der vielen kleinen Falten, welche dort hätten seyn sollen, auf den Brüsten selbst ein Zirkelchen mit Radien einzuschneiden. Ist
dieses nicht ein Zeichen, daß ihnen Muth verliehen war, die Natur nachzuahmen, oder offenbaren sie nicht hierdurch, daß, wenn
ihnen nicht Fesseln angelegt worden, sie wohl zu der Geschicklichkeit würden gelangt seyn, das zu leisten, wornach sie nicht trachten
durften? Um des Gesagten willen verzeihe [24] man auch dem Herodotus, daß er die zwanzig weiblichen colossalischen Statuen von
Holz in der Stadt Saisfür unbekleidet gehalten.
Der männlichen Figuren. Von den männlichen Figuren sage ich nichts; sie waren ganz nackt bis auf eine Art Schurz, welcher
sie vom Unterleibe bis an die Knie bedeckt.
§. 12. Um alles zu melden, was die Aegyptischen Künstler der ersten Zeit betrifft, muß ich noch anmerken, daß, wenn ihre großen
Statuen durchgängig also gebildet waren, doch die kleinen Götzen-Bilder von Bronze und die in Stein eingeschnittenen Figuren ein
wenig mehr Freyheit zeigten, wenigstens in Hinsicht der Arme und Hände. Nachdem ich dieses noch angemerkt, ist von mir alles
beygebracht, was jene Künstler im Allgemeinen von der Bildung der Figuren in menschlicher Gestalt wußten, oder was ihnen die
Gesetze zu wissen erlaubten.
Vom Mangel der Grazie.
§. 13. Wenn sie aber von der Zeichnung wenig verstanden, was konnten sie wohl von der Grazie wissen? Diese war ihnen unbekannt,
so wie man, nach dem Zeugnisse des Herodous, in jenem Lande nicht einmal die drey Göttinnen kannte, welche diesen Namen führen.
In dieser Hinsicht kann man überhaupt sagen, was Strabo von den Aegyptischen Gebäuden urtheilt, nämlich daß ihnen die Grazie
und das Mahlerische fehlten: Ονδεν' [25] εχειχάριεν, όνδέ γραφικόν. Dieses sey nicht sowohl gegen die Künstler, von denen hier die
Rede ist, als vielmehr gegen den Casaubonus gesagt, welcher das Wort Γραφικόν buchstäblich übersetzte, um die Bedeutung desselben
dahin bestimmte, nicht daßjenen Gebäuden das mahlerische Ansehen und die Grazie gefehlt, sondern daß nihilpictum in denselben
gewesen. Allein wir wissen das Gegentheil hiervon aus den alten Schriftstellern und aus den Berichten neuerer Reisenden, welche in
den Trümmern von Theben erhoben gearbeitete und bemahlte colossalische Figuren gesehen.
Von den Thier-Gestalten.
§. 14. Ich weiß wohl, daß man meinem über die Aegyptischen Kunstwerke der ersten Zeit gefällten Urtheile viele Figuren von Thieren
entgegensetzen kann, welche von jenen Künstlern mit einem großen Verständnisse der Muskeln und des Knochenbaues gearbeitet sind,
und an welchen man eine sanfte Uebereinstimmungund viel Fließendes in allen Theilen bemerkt, z.B. an den Löwen am Aufgange
zum Capitol, an zwey anderen an der Fontana Felice, ferner an einigen Sphinxen, sonderlich an einem der größten, welcher sich in
der Villa Borghese findet. Ohne mich aber in Hinsicht dieser Thiere aufdie Kunstwerke der zweyten Zeit zu berufen, wozu ich keine
überzeugenden Gründe finde, habe ich mich in dem vorigen Abschnitte, wie [26] ich glaube, nur aufdie Figuren in menschlicher
Gestalt beschränkt. Der Vorzug also, welche diese Figuren der Thiere von den menschlichen haben, giebt uns nach meiner Meynung
einen neuen Grund zu glauben, daß jenes schon angeführte, den Künstlern durch die Religion selbst vorgeschriebene Gesetz sich nur
aufmenschliche Figuren bezog, also daß die Künstler in Hinsicht der übrigen Gegenstände einfreyes Feld hatten, und daher bei diesen
ihre Geschicklichkeit in der Kunst zu zeigen suchten.
Besondere Eigenschaften.
§. 15. Ich gehe jetzt von dem Allgemeinen ihres Styls zu dem Besonderen über, indem ich mit den menschlichen Köpfen beginne. An
diesen bemerkt man, außer der von mir oben angedeuteten durchgängigen Aehnlichkeit, das Gegentheil von dem, wodurch sich die
Köpfe der Griechischen Bildhauerey unterscheiden. Denn diejenigen Theile, welche an diesen mit einer edlen Schärfe hervorgehoben
sind, sieht man an jenen platt und niedergedrückt. So pflegt der obere Knochen der Augen-Vertiefung oder der Augenbrauen an den
Aegyptischen Köpfen ohne Vorsprung und mit den Augen beynahe auf gleicher Fläche zu seyn. Die sanfte Einheit der Wangen mit
dem ganzen Oval, wie man sie an den Griechischen Köpfen, an welchen die Jugend ausgedrückt ist, erblickt, ist an den Köpfen der
Aegyptischen Figuren durch den stark angedeuteten Backen- [27] Knochen ganz und gar unterbrochen, und die rundlich erhobene Form
des Kinns durchaus nicht sichtbar.
§.16. Ein anderes Unterscheidungs-Zeichen pflegen zuweilen die Ohren zu geben, welche so hoch hinaufgerückt sind, daß das
untere Ende fast in gerader Linie mit den Augen steht. Man bemerkt dieses auch an den Figuren, die auf den Obelisken erhoben
gearbeitet sind, besonders an den sitzenden Figur unter der Spitze des Obelisks, welcher vor dem Pallast Barberini auf der Erde liegt.
Uns scheint solches ein Mißverhältniß, da wir gewohnt sind, die Ohren auf die Linie der Nase gesetzt zu sehen. Aber in Betracht der
Arbeit des Meißels sind einige Aegyptische Köpfe wegen der äußerst fleißigen Ausführung vielen Griechischen Köpfen überlegen. Leh
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eben so wenig, und wenn es bei der Natur gemäß an solcher Stelle mehr als anderswo faltig erscheinen mußte, so genügte es ihnen,
anstatt der vielen kleinen Falten, welche dort hätten seyn sollen, auf den Brüsten selbst ein Zirkelchen mit Radien einzuschneiden. Ist
dieses nicht ein Zeichen, daß ihnen Muth verliehen war, die Natur nachzuahmen, oder offenbaren sie nicht hierdurch, daß, wenn
ihnen nicht Fesseln angelegt worden, sie wohl zu der Geschicklichkeit würden gelangt seyn, das zu leisten, wornach sie nicht trachten
durften? Um des Gesagten willen verzeihe [24] man auch dem Herodotus, daß er die zwanzig weiblichen colossalischen Statuen von
Holz in der Stadt Saisfür unbekleidet gehalten.
Der männlichen Figuren. Von den männlichen Figuren sage ich nichts; sie waren ganz nackt bis auf eine Art Schurz, welcher
sie vom Unterleibe bis an die Knie bedeckt.
§. 12. Um alles zu melden, was die Aegyptischen Künstler der ersten Zeit betrifft, muß ich noch anmerken, daß, wenn ihre großen
Statuen durchgängig also gebildet waren, doch die kleinen Götzen-Bilder von Bronze und die in Stein eingeschnittenen Figuren ein
wenig mehr Freyheit zeigten, wenigstens in Hinsicht der Arme und Hände. Nachdem ich dieses noch angemerkt, ist von mir alles
beygebracht, was jene Künstler im Allgemeinen von der Bildung der Figuren in menschlicher Gestalt wußten, oder was ihnen die
Gesetze zu wissen erlaubten.
Vom Mangel der Grazie.
§. 13. Wenn sie aber von der Zeichnung wenig verstanden, was konnten sie wohl von der Grazie wissen? Diese war ihnen unbekannt,
so wie man, nach dem Zeugnisse des Herodous, in jenem Lande nicht einmal die drey Göttinnen kannte, welche diesen Namen führen.
In dieser Hinsicht kann man überhaupt sagen, was Strabo von den Aegyptischen Gebäuden urtheilt, nämlich daß ihnen die Grazie
und das Mahlerische fehlten: Ονδεν' [25] εχειχάριεν, όνδέ γραφικόν. Dieses sey nicht sowohl gegen die Künstler, von denen hier die
Rede ist, als vielmehr gegen den Casaubonus gesagt, welcher das Wort Γραφικόν buchstäblich übersetzte, um die Bedeutung desselben
dahin bestimmte, nicht daßjenen Gebäuden das mahlerische Ansehen und die Grazie gefehlt, sondern daß nihilpictum in denselben
gewesen. Allein wir wissen das Gegentheil hiervon aus den alten Schriftstellern und aus den Berichten neuerer Reisenden, welche in
den Trümmern von Theben erhoben gearbeitete und bemahlte colossalische Figuren gesehen.
Von den Thier-Gestalten.
§. 14. Ich weiß wohl, daß man meinem über die Aegyptischen Kunstwerke der ersten Zeit gefällten Urtheile viele Figuren von Thieren
entgegensetzen kann, welche von jenen Künstlern mit einem großen Verständnisse der Muskeln und des Knochenbaues gearbeitet sind,
und an welchen man eine sanfte Uebereinstimmungund viel Fließendes in allen Theilen bemerkt, z.B. an den Löwen am Aufgange
zum Capitol, an zwey anderen an der Fontana Felice, ferner an einigen Sphinxen, sonderlich an einem der größten, welcher sich in
der Villa Borghese findet. Ohne mich aber in Hinsicht dieser Thiere aufdie Kunstwerke der zweyten Zeit zu berufen, wozu ich keine
überzeugenden Gründe finde, habe ich mich in dem vorigen Abschnitte, wie [26] ich glaube, nur aufdie Figuren in menschlicher
Gestalt beschränkt. Der Vorzug also, welche diese Figuren der Thiere von den menschlichen haben, giebt uns nach meiner Meynung
einen neuen Grund zu glauben, daß jenes schon angeführte, den Künstlern durch die Religion selbst vorgeschriebene Gesetz sich nur
aufmenschliche Figuren bezog, also daß die Künstler in Hinsicht der übrigen Gegenstände einfreyes Feld hatten, und daher bei diesen
ihre Geschicklichkeit in der Kunst zu zeigen suchten.
Besondere Eigenschaften.
§. 15. Ich gehe jetzt von dem Allgemeinen ihres Styls zu dem Besonderen über, indem ich mit den menschlichen Köpfen beginne. An
diesen bemerkt man, außer der von mir oben angedeuteten durchgängigen Aehnlichkeit, das Gegentheil von dem, wodurch sich die
Köpfe der Griechischen Bildhauerey unterscheiden. Denn diejenigen Theile, welche an diesen mit einer edlen Schärfe hervorgehoben
sind, sieht man an jenen platt und niedergedrückt. So pflegt der obere Knochen der Augen-Vertiefung oder der Augenbrauen an den
Aegyptischen Köpfen ohne Vorsprung und mit den Augen beynahe auf gleicher Fläche zu seyn. Die sanfte Einheit der Wangen mit
dem ganzen Oval, wie man sie an den Griechischen Köpfen, an welchen die Jugend ausgedrückt ist, erblickt, ist an den Köpfen der
Aegyptischen Figuren durch den stark angedeuteten Backen- [27] Knochen ganz und gar unterbrochen, und die rundlich erhobene Form
des Kinns durchaus nicht sichtbar.
§.16. Ein anderes Unterscheidungs-Zeichen pflegen zuweilen die Ohren zu geben, welche so hoch hinaufgerückt sind, daß das
untere Ende fast in gerader Linie mit den Augen steht. Man bemerkt dieses auch an den Figuren, die auf den Obelisken erhoben
gearbeitet sind, besonders an den sitzenden Figur unter der Spitze des Obelisks, welcher vor dem Pallast Barberini auf der Erde liegt.
Uns scheint solches ein Mißverhältniß, da wir gewohnt sind, die Ohren auf die Linie der Nase gesetzt zu sehen. Aber in Betracht der
Arbeit des Meißels sind einige Aegyptische Köpfe wegen der äußerst fleißigen Ausführung vielen Griechischen Köpfen überlegen. Leh