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Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0022
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14

Einleitung.

Predigt auch wohl den deutschen Gesang gepflegt, Jo-
hannes Tauler liebte in seinen Predigten und Schriften
deutsche Lieder einzuflechten. Und besonders die neuen
Lehren, die sektenartigen Richtungen suchten durch
Lieder in der Landessprache zu wirken. Die Bußlieder
der Geißlerbrüderschaften zeugen davon. Auch deutsche
Wallfahrtslieder waren seit der Kreuzzugszeit leben-
dig gewesen. Aber erst durch die Reformation, durch
Luther erst erfolgt der Bruch mit dem lateinischen
Kirchengesang, wird das Kirchenlied für ein Jahrhun-
dert zum herrschenden Liede der Nation. Denn diese
Lieder werden nicht nur in der Kirche gesungen, sie
dienen auch zur häuslichen Andacht und Erbauung.
Auf Markt und Straßen werden sie gesungen als Kampf-
und Siegeslieder. Gern benutzen sie die alten Melodien,
lehnen sie sich an alte Volkslieder an, vor allem ihre
Anfänge übernehmen sie.
Luthers Beispiel w’irkte. Immer mehr deutsche
Poeten wandten sich zur geistlichen Liederdichtung.
Auf die erste kleine Liedersammlung von 1524, die nur
acht Gesänge enthielt, folgte schon vier Jahre später
eine von 56 Liedern, 1540 eine Magdeburgische von
120 Liedern, 1568 eine Straßburgische von 300, 1597
eine Greifswaldische von 600 Liedern. Der im Jahre
1786 gestorbene Domdechant von Hardenberg zu Hal-
berstadt konnte ein Register von mehr denn 60000 An-
fängen geistlicher Lieder zusammenstellen. Die Sänger
dieser Lieder sind unter den Geistlichen zu suchen.
Fast ausnahmslos sind es Pfarrer, die nach Luthers Vor-
bild den Gemeindegesang schaffen. Wenn Luther aber
auch das Kirchenlied als ein Mittel betrachtet hatte,
den reinen Glauben unter das Volk zu bringen, wenn
er selbst einzelne Lieder bestimmten Glaubensartikeln
gewidmet hatte, so wußte er doch die Glaubenslehre
durch Empfindung und Darstellung zu verlebendigen.
 
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