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Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0024
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Einleitung.

16
und Kunst besteht ein Wesensunterschied darin, daß
die Wissenschaft ein gegebenes Material zu bearbeiten
hat, während der Künstler seinen Stoff frei erzeugt oder
doch in sich selber neu erschafft. Der Gelehrte, der
sich der Dichtung zuwendet, wird es stets nach Art
und Wesen seines Berufes tun: Er wird auch hier sich
an ein gegebenes Material halten und es mehr oder
weniger geschmackvoll bearbeiten. Das Schöpferische,
das Innerste und Wertvollste aller künstlerischen Tätig-
keit wird ihm so fremd sein, daß er sein Fehlen nicht
einmal begreift.
In welch bedenklichem Grade das damals der Fall
war, zeigt uns vorzüglich Max v. Waldbergs Buch über
die Renaissancelyrik in seinem letzten Abschnitt: „An-
lehnung und Entlehnung“. Diese Gelehrtenlyrik ist eine
Poesie der Übersetzung, der Nach- und Anempfindung,
des naivsten literarischen Diebstahls. In seinem Unter-
richt von der Teutschen Sprache und Poesie lehrt
Morhoff: „Erstlich, ehe einer erfinden kann, muß er zu-
vor gelesen und gesamblet haben, sonsten wird er ein
leeres Stroh dreschen. Er muß nicht allein die vor-
nehmbsten Teutschen Poeten, sondern auch die Latei-
nischen und Griechischen, von welchen doch alles her-
fliesset, wohl durchkrochen und ihre Künste ihnen abge-
lernet haben. Will er diesen die Ausländer, als Spanier,
Franzosen, Italiäner hinzusetzen, wird er seinen Schatz
desto größer machen“. Eine Flut von Übersetzungen
erschien, und nicht alle nannten ihr Original. Man hatte
keine Achtung vor fremdem geistigem Eigentum. Auf
eine Überschrift, bei der eine Quelle genannt wurde,
kamen zehn, die sie verschwiegen. Man bestahl die
fremden Literaturen, und man bestahl sich untereinander.
„Wer ein deutscher Poet werden will — sagt Sacer in
seiner Satire über die Literatur des 17. Jahrhunderts —
der muß vor allen Dingen deutsch lesen und schreiben
 
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