Angelus Silesius.
49
Der Blüte-Feind der Nord
Steht auff und macht sich fort;
Das Turtel-Täubelein
Läßt hörn die Seufzerlein.
Das Wild läuft hin und her
Die Läng und auch die Quer;
Es tantzen alle Wälder,
Es hüpffen alle Felder:
Das liebe Wollen-Vieh
Das weidet sich nu früh;
Die stumme Schuppenschaar
Schwimmt wieder offenbar.
In dieser dürren Aufzählung erschöpft sich das Gedicht.
Kein Bild ist gesehen, erlebt, alles ist aus der Literatur
der Zeit übernommen. Wie sollte das auch anders sein
bei einem Menschen, der seine Augen nur nach innen
aufschlug!
Schefflers leidenschaftliche Natur trieb es stets zu
den äußersten Polen, zum letzten Ausdruck. Seine
mystische Sinnlichkeit mußte sich auch des alten Wun-
denkultes bemächtigen. Aber auch hier findet er nicht
die eigene Sprache, auch hier wird ihm die süßliche,
schwülstige Form der Gelehrtenpoesie verhängnisvoll:
Seyd gegrüßt, ihr Honig-Graben,
Die mein krankes Herze laben;
Seyd gegrüßt ihr offne Holen
Süsse Zuflucht meiner Seelen:
Ihr Wunden Jesu seyd gegrüßt
Und mit inniglicher Lieb geküßt.
Aber gerade daß er sich hier in den Formen der
Zeit darstellte, hat seine Zeit gewonnen. Der Einfluß
der Heiligen Seelenlust füllt noch die erste Hälfte des
18. Jahrhunderts. Sie beherrschte alle folgende religiöse
Lyrik, vor allem die Dichtung des Pietismus, die die
mystische Sinnlichkeit in ihren letzten kunstlosen Mög-
lichkeiten ausbeutete und die mehr in eine Kultur- und
4*
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Der Blüte-Feind der Nord
Steht auff und macht sich fort;
Das Turtel-Täubelein
Läßt hörn die Seufzerlein.
Das Wild läuft hin und her
Die Läng und auch die Quer;
Es tantzen alle Wälder,
Es hüpffen alle Felder:
Das liebe Wollen-Vieh
Das weidet sich nu früh;
Die stumme Schuppenschaar
Schwimmt wieder offenbar.
In dieser dürren Aufzählung erschöpft sich das Gedicht.
Kein Bild ist gesehen, erlebt, alles ist aus der Literatur
der Zeit übernommen. Wie sollte das auch anders sein
bei einem Menschen, der seine Augen nur nach innen
aufschlug!
Schefflers leidenschaftliche Natur trieb es stets zu
den äußersten Polen, zum letzten Ausdruck. Seine
mystische Sinnlichkeit mußte sich auch des alten Wun-
denkultes bemächtigen. Aber auch hier findet er nicht
die eigene Sprache, auch hier wird ihm die süßliche,
schwülstige Form der Gelehrtenpoesie verhängnisvoll:
Seyd gegrüßt, ihr Honig-Graben,
Die mein krankes Herze laben;
Seyd gegrüßt ihr offne Holen
Süsse Zuflucht meiner Seelen:
Ihr Wunden Jesu seyd gegrüßt
Und mit inniglicher Lieb geküßt.
Aber gerade daß er sich hier in den Formen der
Zeit darstellte, hat seine Zeit gewonnen. Der Einfluß
der Heiligen Seelenlust füllt noch die erste Hälfte des
18. Jahrhunderts. Sie beherrschte alle folgende religiöse
Lyrik, vor allem die Dichtung des Pietismus, die die
mystische Sinnlichkeit in ihren letzten kunstlosen Mög-
lichkeiten ausbeutete und die mehr in eine Kultur- und
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