Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0067
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Anakreontischer Einfluß.

59

sie rückhaltlos zu wagen. Ist seine Persönlichkeit be-
bewußt und tätig genug, so wird er es vermögen, reicher
und geläuterter in sich selbst zurückzukehren. Und
diesen reinsten Wechsel zwischen Empfänglichkeit und
Selbsttätigkeit finden wir in Goethes Leben. Ist aber
die lyrische Persönlichkeit wesentlich Passivität, so wird
sie aus dieser Hingabe sich nicht zurückfinden und zu-
grunde gehen. Auch dafür hat die deutsche Lyrik
Beispiele in Bürger und Lenau.
Am unmittelbarsten ringt sich das Gefühl Günthers
im Abschiedsgedicht an Leonore durch:
Schweig du doch nur, du Hälfte meiner Brust!
Denn was du weinst, ist Blut aus meinem Herzen.
Ich taumle so und hab an nichts mehr Lust
Als an der Angst und den getreuen Schmerzen.
In den ersten Universitätsjahren zeigen Günthers Ge-
dichte wesentlich jenen Ton, den wir anakreontisch zu
nennen pflegen. Eine Einwirkung von Menantes-Hunolds
Lyrik hatte er bald überwunden. Anakreon sowohl als
Horaz, Tibull und Ovid, die ihn schon auf dem Gymna-
sium begleiteten, haben ihn beeinflußt. Er singt Stu-
dentenlieder von einer Fröhlichkeit und Jugend, daß sie
noch heute weiterleben, vor allem die Lieder seiner
Leipziger Zeit, die unter unmittelbarem anakreontischem
Einfluß stehen: Brüder laßt uns lustig sein, weil der
Frühling währet! und: Das Haupt bekränzt, das Glas ge-
füllt! Der junge Goethe steht in seinen Leipziger Liedern
unter Günthers Einfluß. Ein Lebensrausch faßt Günther
an. Die schrankenlose Freiheit, die wilde Zügellosigkeit
des damaligen Studentenlebens, die Freundschaft, die er
seiner jugendlichen Schönheit und liebenswürdigen Offen-
heit wegen allenthalben fand, rissen ihn hin. Eine Schil-
derung die Loen in seinen „Kleineren Schriften“ gibt,
zeichnet den damaligen Studenten deutlich: „Die meiste
Studenten tragen große, lange, schwarze Deg'en, in
 
Annotationen