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Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0069
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Leipzig.

61

Dies aber war die Gefahr. Seine Zeit und Um-
gebung war nicht danach, daß er sich ihr ohne letzten
Verlust dauernd hätte rückhaltlos hingeben können.
Zudem ist eine bloße Passivität auf die Dauer nicht
möglich, ohne auch jeden Ansatz zur Persönlichkeit zu
vernichten. Die bloße Passivität wird einmal in sich
selber so sehr ermüden, daß sie über Empfänglichkeit
und Lebensanteil des üblichen Menschen nicht mehr
hinausdringt. In einzelnen Momenten wenigstens muß
sich der individuelle Mensch zur Aktivität, zur Selbst-
bestimmung durchsetzen, und wie seine Empfänglichkeit
außergewöhnlich tief und leidenschaftlich war, so muß
dann auch seine Selbsttätigkeit, sein Selbstgefühl, seine
Selbstbehauptung eine außergewöhnlich heftige, leiden-
schaftliche, rücksichtslose sein. In diesen wenigen Mo-
menten reckt sich der individuelle Dichter zu einem
solch geschlossenen Gefühl seiner Eigenart, zu einer
solch stolzen Bejahung seiner Einzelart auf, daß in ihnen
alles Zufällige von ihm abfällt, alles Unvollendete sich
erfüllt, und er in dieser Gestalt vor uns weiterlebt.
Günther war keine intellektuelle Natur. Er nennt
zwar die Namen Leibniz und Wolff des öfteren, ja, in
einem seiner letzten Gedichte versichert er: „Ich fraß
fast vor Begier, was Wolff und Leibniz setzen“, aber
er fährt fort: „bei welchen ich den Kern der frommen
Weisheit fand“. Was er bei ihnen gesucht hat, ist
gewiß nicht begriffliche Schulung und systematische
Sicherheit, sondern die Bejahung jenes freien, dogmen-
losen Christentums, das seine Natur sich früh und kampf-
los zu eigen machte und das bei ihm fast dauernd das
rührende Verhältnis des Kindes zu einem persönlichen
Gott und Vater zeigt. In dieses Verhältnis paßte denn
auch der Leibnizsche Optimismus wohl hinein, und der
scheint ihn besonders angezogen zu haben. Im ganzen
aber mögen wir in diesen Versen wohl seine persön-
 
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