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Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0010
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Einleitung.

ungeschiedenen Einheit des Volkslebens ist auch sie
einfach und allgemein, der Ausdruck eines ganzen Vol-
kes: das Volkslied. Aber sie ist stets dem Strebenden,
dem Kräftigsten und Lebendigsten Freund. Sie kann
nicht bei der Einfachheit des Ganzen Zurückbleiben;
Streben und Wechsel der einzelnen Stände begleitend,
legt sie sich nach und nach in verschiedene ständische
Poesien auseinander. Wir finden die Lyrik des Ritter-
tums im Minnesang, des Bürgertums im Meistersang,
des Bauerntums in jenem Liede, das wir heute als Volks-
lied bezeichnen — und das wir doch ursprünglich und
vielleicht in seinen besten Erzeugnissen als Bauernlied
deuten müssen —, die Lyrik des geistlichen Standes im
Kirchenlied und des Gelehrtenstandes in der Gelehrten-
poesie, die sich in der ersten und zweiten schlesischen
Schule zusammenschließt.
Im großen und ganzen zeigen sich uns diese Dicht-
arten so, daß sie wie ihre Träger einander ablösen, daß
wenigstens ihre Blütezeiten nacheinander liegen. Aber
auch in den Zeiten ihres Zusammenseins bleiben trotz
aller Berührungen, trotz aller wechselseitigen Beein-
flussung die Stände wie ihre Dichtart im wesentlichen
geistig voneinander geschieden.
Geben nun auch diese Arten ständischer Dichtung
nicht mehr den Ausdruck des gesamten Volkslebens, so
vertreten sie doch jeweils den lebendigsten und wich-
tigsten seiner Teile. Aus der Einheit und Einfachheit,
aus der Allgemeinheit des Volkes haben sie sich los-
gelöst, jede zeigt ihre geschlossene Eigenart, jede außer
dem Bauernliede tritt uns in einzelnen, bekannten Per-
sonen entgegen, und auch diese Personen erstreben und
beweisen wieder untereinander Neuheit und Eigentüm-
lichkeit des Stils. Aber keiner dieser Dichter vermag
sich wesentlich aus den Anschauungen seines Volks-
teiles herauszuheben, keiner vermag sich aus der Lebens-
 
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