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Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0051
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Angelus Silesius.

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zwingenden Gewalt hat er in diesen Distichen die
tiefsten mystischen Spekulationen verdichtet. Sie sind
wie Blitze, die mit kurzem, blendendem Licht in die Ab-
gründe der Mystik hineinleuchten. Viele sind wertlos,
viele Wiederholungen, einige aber zeigen eine Kühn-
heit der Ideen und Bilder, eine Gedrungenheit und
Leidenschaftlichkeit der Darstellung, daß dieser erste
Versuch, Weltanschauung lyrisch zu formen, gleich in
sich vollendet auftritt:
Die Erkenntnis, die uns in die letzten Tiefen der
Weisheit führen soll, vermag uns nicht die Wissenschaft
zu geben, nicht das diskursive Denken. Nur die Intuition
kann uns an den Abgrund der Gottheit führen. Um
aber ihrer teilhaftig zu werden, müssen wir alles welt-
liche Wähnen, Wissen und Wollen von uns tun. „Solt
du götlich wizzen, so muoz din wizzen körnen in ein
luter unwizzen und in ein vergezzen din selbes und
aller creatüren.“ (Meister Eckart.) Erst wenn so die
Seele in die letzte Armut und Abgeschiedenheit ein-
gegangen, kann sich ihr Gott erschließen, ja muß sich
Gott zu ihr wenden:
Je mehr du dich aus dir kannst austun und entgießen,
Je mehr muß Gott in dich mit seiner Gottheit fließen.
Aber die Seele ist nicht zufrieden damit, Gott zu
erkennen, zu schauen, zu fühlen, sie muß zerfließen und
münden und untergehen im Meere der Gottheit. Wie
ist denn eine Erkenntnis möglich? Wissen und ver-
stehen kann man nur, was man in sich trägt, was man
selber ist. Die Seele erkennt Gott nur, insofern sie
Gott ist — und wieder Gott wird. Denn vor ihrer Ver-
einzelung- war auch die Seele dem Allgemeinen, dem
Göttlichen eins und eigen. Erst der Sündenfall der
Individuation hat sie mit dem Endlichen beengt und
belastet. Und ihre sehnende Not ist nun, dem Fluche
der Endlichkeit zu entfliehen in asketischer Entäußerung
 
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