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Witkop, Philipp
Die Anfänge der neueren deutschen Lyrik — Heidelberg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.73240#0094
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Haller.

sonst, die sogenannten „Erlebnisse“ angeht — wer von uns
hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei
solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht „bei
der Sache“: wir haben unser Herz nicht dort — und
nicht einmal unser Ohr! Vielmehr wie ein Göttlich- ■
Zerstreuter und Jn-sich-Versenkter, dem die Glocke eben
mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags ins Ohr
gedröhnt hat, mit einem Male aufwacht und fragt: „was
hat es da eigentlich geschlagen?“, so reiben auch wir
uns mitunter hinterdrein die Ohren und fragen ganz
erstaunt, ganz betreten: „was haben wir da eigentlich
erlebt?“ mehr noch: „wer sind wir eigentlich?“ und
zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle die zitternden
zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens,
unsres Seins — ach, und verzählen uns dabei... Wir
bleiben uns eben notwendig fremd, wir verstehen uns
nicht, wir müssen uns verwechseln, für uns heißt der
Satz in alle Ewigkeit: „Jeder ist sich selbst der Fernste —,
für uns sind wir keine Erkennenden“.
Wenn wir daran denken, uns die Größe dieser
Schilderung in einem Namen zu verwirklichen, so dür-
fen wir den Namen des größten Gelehrten nennen:
Kant.
Das ist — im Sinne des Individuums — die Tra-
gik des Gelehrten — und doch auch sein Segen: Früh
schon kann er innerhalb des Allgemeinen den Punkt
bestimmen, der ihm zum Ziel gesetzt ist, er kann zu
ihm die Linie seines Lebens ziehen. Um diese Linie
kann er seine Tage sammeln, an der Richtschnur des
Allgemeinen schreitet er sicher und steigend hinauf —
vorbei an den Abgründen des Individuums, des Lebens.
Anders der Künstler: Seine Aufgabe ist, das Indi-
viduelle zu gestalten, innerhalb des Allesfließenden, des .
endlosen Wechsels und Wandels die einmalige, einzelne
Erscheinung zu rechtfertigen und in der ewTigen Leben-
 
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