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sprechen sind, der zerrissene Hosen anhat. Die Diener schlugen
ihm die Thür vor der Nase zu, die Herren bekam er gar nicht
zu Gesicht.
Nach solchen Erlebnissen begann der Muth des schmählich ver-
kannten Staatssekretärs zu wanken.
Da stand er in der großen Verkehrsstraße der Residenz, hilflos
und rathlos. Er fühlte eine sonderbare Schwäche und Müdigkeit,
einen Druck in der Magengegend — kein Zweifel, das war der
Hunger! Es wurde bald Abend, er mußte jetzt unbedingt speisen —
aber wo?
Merkwürdig, da stehen die Thore der prächtigen Hotels weit
geöffnet, da ragen die Bierpaläste, da locken die Schaufenster der
Delikatessenhandlungen, da wogt die elegante Welt zu Fuß und zu
Wagen auf und ab, und mitten in dieser Herrlichkeit steht ein Mensch
auf der Straße, der noch nicht zu Mittag gegessen hat und nicht
weiß, wo er zu Abend essen kann! Und er ist nicht der Einzige —
hier und da taucht eine ähnliche kümmerliche Gestalt auf, mit bleicher
Gesichtsfarbe, ängstlich suchenden Augen ....
„Sollte das der Nothstand sein, von dem die Sozialdemokraten
zu erzählen wissen?" so fragte sich der hungrige Staatssekretär, doch
er ermannte sich rasch.
„Ich will doch sehen, ob es so schwer ist, etwas zu essen zu
bekommen," dachte er und sprach den nächsten Vorübergehenden an.
Er habe kein Geld bei sich und der Herr möge ihm nur eine lumpige
Mark leihen, damit er zu Abend essen könne.
„Unverschämtheit!" war die Antwort, „ich werde die Polizei
rufen."
„Sonderbar," meinte Herr von 26. für sich, „wenn inan etwas
braucht, wenn man Hunger hat, da kommen die Leute mit der
Polizei!"
Es wurde vollends Abend; der Staatssekretär wagte Niemand
mehr zu besuchen oder anzureden, aber sein Hunger nahm zu. „Was
fängt man in solcher Lage wohl an?" fragte er sich. „Betteln ist
gesetzlich verboten — Stehlen ist ein Kriminalverbrechen; Niemand
'st gezwungen, Hilfe zu leisten — freiwillig hilft Niemand; Facit:
man muß Selbstmord begehen oder verhungern; auf der Armuth steht
"lso reichsgesetzlich die Todesstrafe — und ich habe immer bestritten,
daß der Nothstand vorhanden sei!"
Während dem Staatssekretär diese Erkenntniß dämmerte, kam
eine Frau in die Nähe, welche mit Backwaaren handelte. Er blickte
begierig auf das Brot und murmelte etwas Unverständliches. Die
Frau war mitleidig und schenkte ihm eine Semmel. Verschämt zog
er sich damit in eine Nebenstraße zurück. Dort war der Verkaufs-
stand eines Käse- und Gemüsehändlers. Ein schöner Ziegenkäse lag
an dem äußeren Rande auf der Tafel.
„Wenn ich diesen Käse zu meiner Semmel hätte!" dachte der
Herr von 26. „Aber gutwillig giebt ihn der Mann nicht, und wenn
ich ihn heimlich nehme, das könnte falsch ausgelegt werden."
Er dachte noch über den Käse nach, da wehte der Wind zufällig
ein Zeitungsblatt vor seine Füße. Er hob es mechanisch auf.
„Will doch sehen, was in der Welt vorgeht . . . ." Er konnte
die Schrift ohne Brille schwer entziffern; doch halt — da war eine
fettgedruckte Depesche:
(W.T.B.) Der Staatssekretär von 26. hat anerkannt, daß dem
Nothstand von Reichswegen abgeholfen werden muß, weil ein
Staat, welcher seinen Angehörigen das Existenzminimum nicht
gewährt, auch kein moralisches Recht hat, das Betteln und das
Stehlen zu bestrafen. Laut einer Gesetzvorlage, die der Reichstag
einstimmig annahm, bleibt bis zur völligen Abstellung des Noth-
standes der Bettel und Diebstahl straflos, wenn zwingende Noth-
lage als Motiv nachgewiesen wird.
„Das habe ich ja ganz gut gemacht," sagte Herr von 26. mit
Galgenhumor. „Da kann ich mir den Käse ja holen."
Er näherte sich dem Verkaufsstande und nahm den Käse mit
jener Gewandtheit, welche beim Annektiren und Konfisziren in der
Politik traditionell ist.
„Sie sind verhaftet!" donnerte da neben ihm die Stimme eines
Schutzmannes, der ihn schon längst beobachtet hatte.
Herr von 26. war erschrocken. Er gab sich zwar sofort als
Staatssekretär zu erkennen, fand aber damit keinen Glauben. Noch
kräftiger wurde er zurechtgewiesen, als er sich auf die Depesche berief,
die er soeben gelesen; das Blatt entpuppte sich als eine sozialdemo-
kratische Faschingszeitung. Er wurde in Arrest gebracht und mit
zwanzig Leidensgefährten, welche ihm gar mancherlei von dem
Nothstand erzählten, in eine dumpfige Zelle gesperrt.
Dem Kanalarbeiter Lehmann, den die bewußten Spaßvögel in
die Kleider des Herrn von 26. gesteckt und in die Amtswohnung des
Staatssekretärs abgeliefert hatten, ging es inzwischen sehr gut.
Er war freilich nicht weniger, wie sein Doppelgänger erstaunt,
als er in der veränderten Umgebung erwachte, aber in den Wandel
zum Bessern fand er sich sehr leicht. Als der Diener fragte, ob „der
gnädige Herr" das Frühstück befehle, antwortete er mit einem kräf-
tigen „Ja." Dann wurden ihm eine Anzahl Briefe präsentirt, aus
deren Adresse hervorging, daß er für den Staatssekretär von 32. gelte.
„Wenn es die Leute durchaus wollen, mir kann es gewiß recht
sein," dachte er und ließ sich das Frühstück schmecken.
Von der Familie des Staatssekretärs hatte er keine Entdeckung
zu befürchten, denn sie weilte in Nizza. Mit dem Diener sprach er
gar nicht, und einem Sekretär, welcher sich gegen Mittag vorstellte,
sagte er nur, er möchte dringend verreisen und wünsche dazu Geld.
Der Sekretär eilte nach der Kasse und brachte ein erkleckliches
Sümmchen, darauf zog Lehmann den Reisepelz an, worin sich eine
Freifahrkarte für die erste Klasse vorfand, fuhr ab und ward nicht
mehr gesehen. * *
Am Tage nach diesen Ereignissen erzählte der wirkliche Staats-
sekretär, den man als Vagabond dem Gericht vorführte, dem Unter-
suchungsrichter seine ganze Leidensgeschichte, es wurde recherchirt und
endlich gelang es Herrn von 26. wieder zu seinem Namen und seiner
Stellung zu kommen, obgleich es ein Räthsel blieb, wer der plötzlich
aufgetauchte und wieder verschwundene Doppelgänger gewesen sei.
Die Thatsache, daß der Staatssekretär einen Käse annektirt hatte,
blieb freilich bestehen, doch wurde sie als eine in der Zerstreutheit
begangene Sachbeschädigung erklärt. Der Staatsanwalt verfolgte die
Sache nicht und der benachtheiligte Käsehändler wurde als künftiger
Hoflieferant vorgemerkt.
Herr von 26. weiß nun, daß der Nothstand vorhanden ist und
daß die Bevölkerung bitter darunter leidet. Inwieweit diese Erkenntniß
auf die Gesetzgebung einwirken wird, kann zur Zeit nicht gesagt
werden. Wir befürchten sehr, daß das Ergebniß kein nennenswerthes
sein wird.
Nachschrift. Soeben wird an die Thür des Staatsministers
von 26. ein Schild befestigt mit der Aufschrift:
Für Bettler und Hausirer:
Achtung, der Hund beißt! TO
sprechen sind, der zerrissene Hosen anhat. Die Diener schlugen
ihm die Thür vor der Nase zu, die Herren bekam er gar nicht
zu Gesicht.
Nach solchen Erlebnissen begann der Muth des schmählich ver-
kannten Staatssekretärs zu wanken.
Da stand er in der großen Verkehrsstraße der Residenz, hilflos
und rathlos. Er fühlte eine sonderbare Schwäche und Müdigkeit,
einen Druck in der Magengegend — kein Zweifel, das war der
Hunger! Es wurde bald Abend, er mußte jetzt unbedingt speisen —
aber wo?
Merkwürdig, da stehen die Thore der prächtigen Hotels weit
geöffnet, da ragen die Bierpaläste, da locken die Schaufenster der
Delikatessenhandlungen, da wogt die elegante Welt zu Fuß und zu
Wagen auf und ab, und mitten in dieser Herrlichkeit steht ein Mensch
auf der Straße, der noch nicht zu Mittag gegessen hat und nicht
weiß, wo er zu Abend essen kann! Und er ist nicht der Einzige —
hier und da taucht eine ähnliche kümmerliche Gestalt auf, mit bleicher
Gesichtsfarbe, ängstlich suchenden Augen ....
„Sollte das der Nothstand sein, von dem die Sozialdemokraten
zu erzählen wissen?" so fragte sich der hungrige Staatssekretär, doch
er ermannte sich rasch.
„Ich will doch sehen, ob es so schwer ist, etwas zu essen zu
bekommen," dachte er und sprach den nächsten Vorübergehenden an.
Er habe kein Geld bei sich und der Herr möge ihm nur eine lumpige
Mark leihen, damit er zu Abend essen könne.
„Unverschämtheit!" war die Antwort, „ich werde die Polizei
rufen."
„Sonderbar," meinte Herr von 26. für sich, „wenn inan etwas
braucht, wenn man Hunger hat, da kommen die Leute mit der
Polizei!"
Es wurde vollends Abend; der Staatssekretär wagte Niemand
mehr zu besuchen oder anzureden, aber sein Hunger nahm zu. „Was
fängt man in solcher Lage wohl an?" fragte er sich. „Betteln ist
gesetzlich verboten — Stehlen ist ein Kriminalverbrechen; Niemand
'st gezwungen, Hilfe zu leisten — freiwillig hilft Niemand; Facit:
man muß Selbstmord begehen oder verhungern; auf der Armuth steht
"lso reichsgesetzlich die Todesstrafe — und ich habe immer bestritten,
daß der Nothstand vorhanden sei!"
Während dem Staatssekretär diese Erkenntniß dämmerte, kam
eine Frau in die Nähe, welche mit Backwaaren handelte. Er blickte
begierig auf das Brot und murmelte etwas Unverständliches. Die
Frau war mitleidig und schenkte ihm eine Semmel. Verschämt zog
er sich damit in eine Nebenstraße zurück. Dort war der Verkaufs-
stand eines Käse- und Gemüsehändlers. Ein schöner Ziegenkäse lag
an dem äußeren Rande auf der Tafel.
„Wenn ich diesen Käse zu meiner Semmel hätte!" dachte der
Herr von 26. „Aber gutwillig giebt ihn der Mann nicht, und wenn
ich ihn heimlich nehme, das könnte falsch ausgelegt werden."
Er dachte noch über den Käse nach, da wehte der Wind zufällig
ein Zeitungsblatt vor seine Füße. Er hob es mechanisch auf.
„Will doch sehen, was in der Welt vorgeht . . . ." Er konnte
die Schrift ohne Brille schwer entziffern; doch halt — da war eine
fettgedruckte Depesche:
(W.T.B.) Der Staatssekretär von 26. hat anerkannt, daß dem
Nothstand von Reichswegen abgeholfen werden muß, weil ein
Staat, welcher seinen Angehörigen das Existenzminimum nicht
gewährt, auch kein moralisches Recht hat, das Betteln und das
Stehlen zu bestrafen. Laut einer Gesetzvorlage, die der Reichstag
einstimmig annahm, bleibt bis zur völligen Abstellung des Noth-
standes der Bettel und Diebstahl straflos, wenn zwingende Noth-
lage als Motiv nachgewiesen wird.
„Das habe ich ja ganz gut gemacht," sagte Herr von 26. mit
Galgenhumor. „Da kann ich mir den Käse ja holen."
Er näherte sich dem Verkaufsstande und nahm den Käse mit
jener Gewandtheit, welche beim Annektiren und Konfisziren in der
Politik traditionell ist.
„Sie sind verhaftet!" donnerte da neben ihm die Stimme eines
Schutzmannes, der ihn schon längst beobachtet hatte.
Herr von 26. war erschrocken. Er gab sich zwar sofort als
Staatssekretär zu erkennen, fand aber damit keinen Glauben. Noch
kräftiger wurde er zurechtgewiesen, als er sich auf die Depesche berief,
die er soeben gelesen; das Blatt entpuppte sich als eine sozialdemo-
kratische Faschingszeitung. Er wurde in Arrest gebracht und mit
zwanzig Leidensgefährten, welche ihm gar mancherlei von dem
Nothstand erzählten, in eine dumpfige Zelle gesperrt.
Dem Kanalarbeiter Lehmann, den die bewußten Spaßvögel in
die Kleider des Herrn von 26. gesteckt und in die Amtswohnung des
Staatssekretärs abgeliefert hatten, ging es inzwischen sehr gut.
Er war freilich nicht weniger, wie sein Doppelgänger erstaunt,
als er in der veränderten Umgebung erwachte, aber in den Wandel
zum Bessern fand er sich sehr leicht. Als der Diener fragte, ob „der
gnädige Herr" das Frühstück befehle, antwortete er mit einem kräf-
tigen „Ja." Dann wurden ihm eine Anzahl Briefe präsentirt, aus
deren Adresse hervorging, daß er für den Staatssekretär von 32. gelte.
„Wenn es die Leute durchaus wollen, mir kann es gewiß recht
sein," dachte er und ließ sich das Frühstück schmecken.
Von der Familie des Staatssekretärs hatte er keine Entdeckung
zu befürchten, denn sie weilte in Nizza. Mit dem Diener sprach er
gar nicht, und einem Sekretär, welcher sich gegen Mittag vorstellte,
sagte er nur, er möchte dringend verreisen und wünsche dazu Geld.
Der Sekretär eilte nach der Kasse und brachte ein erkleckliches
Sümmchen, darauf zog Lehmann den Reisepelz an, worin sich eine
Freifahrkarte für die erste Klasse vorfand, fuhr ab und ward nicht
mehr gesehen. * *
Am Tage nach diesen Ereignissen erzählte der wirkliche Staats-
sekretär, den man als Vagabond dem Gericht vorführte, dem Unter-
suchungsrichter seine ganze Leidensgeschichte, es wurde recherchirt und
endlich gelang es Herrn von 26. wieder zu seinem Namen und seiner
Stellung zu kommen, obgleich es ein Räthsel blieb, wer der plötzlich
aufgetauchte und wieder verschwundene Doppelgänger gewesen sei.
Die Thatsache, daß der Staatssekretär einen Käse annektirt hatte,
blieb freilich bestehen, doch wurde sie als eine in der Zerstreutheit
begangene Sachbeschädigung erklärt. Der Staatsanwalt verfolgte die
Sache nicht und der benachtheiligte Käsehändler wurde als künftiger
Hoflieferant vorgemerkt.
Herr von 26. weiß nun, daß der Nothstand vorhanden ist und
daß die Bevölkerung bitter darunter leidet. Inwieweit diese Erkenntniß
auf die Gesetzgebung einwirken wird, kann zur Zeit nicht gesagt
werden. Wir befürchten sehr, daß das Ergebniß kein nennenswerthes
sein wird.
Nachschrift. Soeben wird an die Thür des Staatsministers
von 26. ein Schild befestigt mit der Aufschrift:
Für Bettler und Hausirer:
Achtung, der Hund beißt! TO