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1475

„Pfui, ich mag keine Leiche sehen," erwiderte sie in herb ab-
weisendem Tone.

Bei diesem wegwerfenden Pfui, welches in der Hütte deutlich zu
vernehmen war, schien es, als ob ein nervöses Zittern die Leiche be-
wege. Gestern hatte sich jene Salondame noch mit Wohlgefallen von
dem hochangesehenen, wenn auch grauhaarigen Herrn den Hof machen
lassen — aber der Tod wirft Rang, Titel und Reichthum nieder, was
bleibt dann von einem Kommerzienrath?

Die zärtlichen Verwandten, die drei Nichten und ein Vetter, hielten
es für ihre Pflicht, näher zu kominen und die Taschentücher zu hand-
haben. Sie hatten auch wirklich Kummer. „Er wird doch ein ordent-
liches Testament gemacht haben," flüsterte die Aeltere, die zu Häupten
des Todten stand.

„Wer wird den schönen Brillantring bekommen?" flüsterte die
Jüngste.

„Pah, den behält die Alte," meinte der Vetter.

„Hier sind die Preziosen nicht einmal sicher," bemerkte die Aelteste
noch mit einem mißtrauischen Blick auf die ab- und zugehenden Arbeiter.

Dann hielten die Verwandten ihre Taschentücher vor die Augen
und gingen weiter.

„Ist es denn wirk-
lich wahr? " rief draußen
eine starke Männer-
stimme. Ein Offizier
erschien in der Hütte.

„Wirklich todt! ar-
mer Kerl!" sprach er be-
wegt, und zu sich selbst
redend, fügte er nach
einer Panse der Ueber-
legung hinzu: „... es
war doch gut, daß er
keinen Schuldschein ver-
langt hat."

Der gute Kommer-
zienrath hatte nämlich
am Tage vorher dem
in Schulden steckenden
Krieger tausend Mark
geliehen.

„Das ist schnell ge-
gangen," sagte der Be-
sucher noch, dann waren
die Äseußerungen seines
Mitleids erschöpft.

Ein Sonnenstrahl
glitt über die Bahre
hin. Was war das?

Waren die Fäuste des
Todten wirklich schon
vorher so grimmig ge-
ballt gewesen? Doch Niemand bemerkte es. Arbeiter gingen, ihrer
Beschäftigung folgend, in der Hütte ab und zu. Einer von den Ar-
beitern trat näher.

„Da liegt er nun, der arme reiche Mann," sagte er wehmuthsvoll
zu seinen Kameraden. „Er war nicht der Beste; Hab' ihn kennen
gelernt, Hab' unter ihm gearbeitet, vor Jahren in der Stadt; er machte
mir ungerechte Abzüge und ich hatte weder Zeit noch Geld, mein
Recht zu suchen. Und für wen hat er zeitlebens zusammengescharrt?
Nur für diese habsüchtige, faulenzende Sippschaft der Erben! Aber
es sei ihm verziehen, die reichen Leute wissen ja gar nicht, wie oft
sie uns Unrecht thun. — Schlaf' wohl, Alter!"

Jetzt zuckte es deutlich über die Augenwimpern der Leiche hin.

„Was war das?" riefen die Arbeiter. „Sollte er noch nicht ganz
todt sein?"

Einer ergriff die Hand des Kommerzienraths; eigentlich kalt war
diese Hand nicht, aber wie konnte bei der herrschenden abnormen Hitze
überhaupt etwas kalt sein? Die Hand war auch nicht mehr krampf-
haft zur Faust geballt.

„Wenn er noch zu retten wäre!" rief der Arbeiter, der zuerst
gesprochen, enthusiastisch.

„Es ist ein Skandal, daß noch kein Arzt zur Stelle," zürnte der
Andere.

„Dem Arzt wollen wir Beine machen!" Damit eilten sie hinweg.
Endlich kamen der Arzt und der Gemeindevorstand, gefolgt von

Neugierigen, würdevoll herbei. „Wo ist die Leiche?" fragten sie und
betraten die Hütte.

Da stand der Kommerzienrath von seiner Bahre auf und ging
ihnen entgegen.

„Guten Tag, meine Herren, Sie haben mich lange warten lassen,"
sprach er.

Die Beiden prallten zurück, mehrere Weiber entflohen mit lautem
Geschrei, Alles war bestürzt.

„Man sagte mir —," begann der Arzt.

„Daß ich todt sei," ergänzte der Kommerzienrath. „Man hat
mich aber vorschnell beweint; ich hatte nur einen Ohnmachtsanfall,
der in eine Art Starrkrampf übergegangen sein muß. Als ich ruhig
hier in der schattigen Hütte lag, löste sich dieser Krampf allmälig;
aber es kamen mir die rührenden Beweise der Liebe und Freundschaft
meiner Umgebung auch schon während des Zustandes der Erstarrung
zum Bewußtsein."

Der Arzt untersuchte den Puls des Kranken und fand ihn
ziemlich normal. Der Kommerzienrath verließ die Hütte und die
Neugierigen wagten sich an die „Leiche" wieder heran.

„Alter Kumpan! Ich
bin glücklich —," sagte
sein Freund, der Offi-
zier, ihm beide Hände
drückend.

„Für diesmal," er-
widerte der Kommer-
zienrath kühl, „war es
nur eine Warnung, daß
man seine 'Angelegen-
heiten jeder Zeit in
Ordnung halten soll.
Also wenn Du mir
den bewußten Schuld-
schein noch heute brin-
gen wolltest —"

„Ei verflucht," knurr-
te der Offizier und ent-
fernte sich.

„Onkelchen, wir ha-
ben Dich wieder!" riefen
in diesem Augenblicke
die drei Nichten gleich-
zeitig, indem sie mit
ausgebreiteten Armen
auf den Geretteten los-
stürzten.

„Ganz recht, Kinder,"
wehrte derselbe ab.
„Aber jetzt brauche ich
Ruhe in meinem Hause,
um mich zu erholen.
Ihr müßt daher noch heute zur Stadt zurück; dort werde ich Euch
etwas Nützliches lernen lassen, damit Ihr Euch nicht länger als
Tagediebe herumtreibt."

„Barocke Idee!" flüsterte die Jüngste der Aelteren zu.

Der Todtgeglaubte blickte sich nach den beiden Arbeitern um, die
den Arzt geholt hatten. Sie waren längst wieder bei ihrer Be-
schäftigung. Er ging zu ihnen hin, drückte ihnen die Hände und ver-
sicherte sie in gerührten Worten seines Dankes. Das hatte der stolze
Kommerzienrath noch keinem Arbeiter gegenüber gethan.

Endlich, vor der Thüre seines Landhauses, kam ihm auch die
Gattin entgegen. Mit einer theatralischen Geberde warf sie sich an
seine Brust.

„Ist es Dein Geist? Bist Du es wirklich? Rettest Du mich aus
meiner entsetzlichen Verzweiflung?"

„Allerdings," sagte der Gatte, sich aus ihren Armen losmachend.
„Du weißt, ich bin immer galant; ich wollte Dir nicht zumuthen.
Dich schwarz zu kleiden, was Dir so schlecht steht, und obendrein im
Sommer. Du hättest ja wie eine Vogelscheuche ausgesehen. Siehst
Du, deshalb bin ich wiedergekommen."

Der Kommerzienrath reiste im besten Wohlsein bald nach der
Stadt zurück, wo er vor Allem sein Testament einer gründlichen Um-
arbeitung unterwarf. „Denn," sagte er zu seinem Advokaten, „ich
vergesse bis zu meinem Tode nicht, was meine Leiche in einer einzigen
Stunde erlebt hat." m. st.
 
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