1563
und mit Rucksäcken ausgerüstet — soeben die geräumige Schenk-
stube betreten hatten.
Es war noch zur gesegneten Zeit des Sozialistengesetzes, daher
nahm es nicht Wunder, daß die Spitzelet sich sogar bis in die Berge
verstieg. Die Angekommenen waren Bewohner und theilweise be-
kannte Sozialdemokraten der Stadt di., deren Polizeidirektor sich seit
Monaten vergeblich bemühte, die Deck-Adressen zu ermitteln, unter
welchen die verbotenen Schriften und Zeitungen nach di. geliefert
wurden. Alle amtlichen und freiwilligen Spitzel hatten Ordre. Jeden
als verdächtig zu notiren. welcher im Verkehr mit Sozialdemokraten
gesehen wurde, damit man ihn sodann durch Haussuchungen. Brief-
kontrolle re. weiter in Behandlung nehmen könne.
Daß ein solcher Spitzel in diesem Augenblick seine Beobachtung
gemacht habe, war den Angekommenen jedoch vollständig entgangen.
Sie hatten den anstrengenden Abstieg vom Wendelstein hinter sich
und bedurften nun
vor Allem eines kräf-
tigen Imbisses, der
von flotten Bauern-
dirnen alsbald auf-
getragen wurde.
Nachdem das
Mahl vorüber und
die beiden „Salon-
Tyroler" aus dem
Lokal verschwunden
waren, belebte sich
die Unterhaltung.
Man tauschte heitere
Scherze; nur der
lange Antonius, ein
Mann von dreißig
bis vierzig Jahren
mit braunem Voll-
bart und goldener
Brille, starrte nach-
denklich vor sich hin.
als wolle er heute
Abend noch das
Räthsel der Sphinx
lösen.
„Halloh. Anto-
nius. warum so
schweigsam?" wurde
er angerufen.
Antonius schaute
den Frager an. sam-
melte seine Gedan-
ken und sagte nach
einer Weile:
„Mir ist halt
immer, als hätt' ich was vergessen; — ich weiß aber nicht was."
„Aber Antonius, was kannst Du noch vergessen haben?" wurde
geantwortet. „Das Fernrohr hast Du schon zu Hause zurückgelassen,
die Wäsche im Eisenbahnwagen vergessen, das Frühstück in der Wurzel-
hütte. und im Rucksacke hattest Du. als wir oben ankamen, einzig
und allein nur Dein Zahnbürstel."
„Richtig, das Zahnbürstel", sagte Antonius, sich besinnend, und
tastete nach seinem Rucksack. Man konstatirte bald: derselbe war
leer. Antonius hatte droben auf dem Wendelstein das Zahnbürstel
liegen lassen.
„Ich wußte doch, daß ich etwas vergessen hatte", konstatirte er
triumphirend.
Man erging sich in heiteren Erörterungen darüber, wie Antonius,
der immer gemüthliche. aber auch immer zerstreute und vergeßliche
Reisegefährte, sein einziges Gepäckstück, das Zahnbürstel, habe droben
verlieren können. Hatte er Angesichts der gigantischen Bergwelt
plötzlich ein unüberwindliches Verlangen empfunden, seine Zähne zu
putzen? Das war nicht ausgeschlossen, als glaubwürdigste Even-
tualität wurde aber proponirt. er habe das Zahnbürstel an Stelle
des Fernrohrs zur Hand genommen, um die Gegend zu betrachten,
und habe es. als er erkannte, daß es sich hierzu nicht eigne, weg-
geworfen.
„Nächstes Jahr besteigen wir den Wendelstein wieder", wurde
er getröstet, „dann holen wir Dein Zahnbürstel."
„Wenn ich's aber inzwischen brauchen thät?" wandte Antonius ein.
Diesen Einwand vermochten die Anderen nicht ganz zu ent-
kräften; sie beschlossen daher, ihrem wackeren Gefährten in aller Stille
ein neues Zahnbürstel zu kaufen; die Genossen Max und Moritz
wurden damit beauftragt, das Geschenk in scherzhafter Weise zu
übermitteln; man wußte, daß sie es verstanden, „die Hosen mit
der Beißzange anzuziehen", wie man in München sagt, wenn Jemand
eine an sich einfache Sache recht umständlich ins Werk setzt.
Der lange Antonius reiste am andern Morgen in die Heimath
zurück, die Anderen hatten noch Zeit und unternahmen eine weitere
Bergtour. —
Es waren seitdem
kaum acht Tage ver-
gangen. da erschien
in der Behausung
des Antonius ein
Polizei-Kommissär
mit zwei Gens-
darmen und er-
klärte. eine Haus-
suchung nach ver-
botenen Schriften
halten zu wollen.
Antonius sah die
Besucher verwun-
dert an. ließ sich
noch einmal ganz
gründlich auseinan-
dersetzen. um was
es sich handle, dann
sagte er:
„Von mir aus
können Sie suchen,
so viel und so lang
Sie mögen. Wann's
a Geld finden, nach-
her sagen Sie's, ich
kunnt' grad oans
brauchen."
DieBeamten such-
ten ziemlich planlos
und schauten oft
nach den Fenstern;
sie schienen etwas zu
erwarten, und diese
Erwartung wurde
bald erfüllt. Es kam der Packetpostbote und lieferte ein großes
Packet für Herrn Antonius ab. auf welches die Polizei sofort ihre
Hand legte.
Diese Taktik. Postsendungen abzufassen, war unter dem Sozialisten-
gesetz nichts Seltenes. Post- und Polizeibehörden verständigten sich
über die Ablieferuckgszeit des Briefes oder Packetes. man hielt unter
irgend einem Vorwand um diese Zeit Haussuchung und faßte die zu-
fällig ankommende Sendung ab. So blieb das Postgeheimniß bei
Stephan „sicher wie die Bibel auf dem Altar" und nur der „Zufall"
wurde zum treulosen Verräther.
„Wollen Sie das Packet nicht öffnen", fragte der Kommissar
Antonius.
„Fallt mir nit ein! Bin nit neugierig", bemerkte Antonius. der
von der ganzen Haussuchung sehr wenig Notiz nahm.
„Dann müssen wir zur amtlichen Eröffnung schreiten."
„Thun Sie. was Sie nicht lassen können", sagte Antonius, wäh-
rend er sich eine Zigarre anbrannte.
Die starken Stricke, welche das Packet zusammenhielten, wurden
durchschnitten. Die Umhüllung von grauer Pappe fiel. Es kam
Ls kam der Packetpostbote und lieferte ein großes Packet für Herrn Antonius ab,
auf welches die Polizei sofort ihre Hand legte.
und mit Rucksäcken ausgerüstet — soeben die geräumige Schenk-
stube betreten hatten.
Es war noch zur gesegneten Zeit des Sozialistengesetzes, daher
nahm es nicht Wunder, daß die Spitzelet sich sogar bis in die Berge
verstieg. Die Angekommenen waren Bewohner und theilweise be-
kannte Sozialdemokraten der Stadt di., deren Polizeidirektor sich seit
Monaten vergeblich bemühte, die Deck-Adressen zu ermitteln, unter
welchen die verbotenen Schriften und Zeitungen nach di. geliefert
wurden. Alle amtlichen und freiwilligen Spitzel hatten Ordre. Jeden
als verdächtig zu notiren. welcher im Verkehr mit Sozialdemokraten
gesehen wurde, damit man ihn sodann durch Haussuchungen. Brief-
kontrolle re. weiter in Behandlung nehmen könne.
Daß ein solcher Spitzel in diesem Augenblick seine Beobachtung
gemacht habe, war den Angekommenen jedoch vollständig entgangen.
Sie hatten den anstrengenden Abstieg vom Wendelstein hinter sich
und bedurften nun
vor Allem eines kräf-
tigen Imbisses, der
von flotten Bauern-
dirnen alsbald auf-
getragen wurde.
Nachdem das
Mahl vorüber und
die beiden „Salon-
Tyroler" aus dem
Lokal verschwunden
waren, belebte sich
die Unterhaltung.
Man tauschte heitere
Scherze; nur der
lange Antonius, ein
Mann von dreißig
bis vierzig Jahren
mit braunem Voll-
bart und goldener
Brille, starrte nach-
denklich vor sich hin.
als wolle er heute
Abend noch das
Räthsel der Sphinx
lösen.
„Halloh. Anto-
nius. warum so
schweigsam?" wurde
er angerufen.
Antonius schaute
den Frager an. sam-
melte seine Gedan-
ken und sagte nach
einer Weile:
„Mir ist halt
immer, als hätt' ich was vergessen; — ich weiß aber nicht was."
„Aber Antonius, was kannst Du noch vergessen haben?" wurde
geantwortet. „Das Fernrohr hast Du schon zu Hause zurückgelassen,
die Wäsche im Eisenbahnwagen vergessen, das Frühstück in der Wurzel-
hütte. und im Rucksacke hattest Du. als wir oben ankamen, einzig
und allein nur Dein Zahnbürstel."
„Richtig, das Zahnbürstel", sagte Antonius, sich besinnend, und
tastete nach seinem Rucksack. Man konstatirte bald: derselbe war
leer. Antonius hatte droben auf dem Wendelstein das Zahnbürstel
liegen lassen.
„Ich wußte doch, daß ich etwas vergessen hatte", konstatirte er
triumphirend.
Man erging sich in heiteren Erörterungen darüber, wie Antonius,
der immer gemüthliche. aber auch immer zerstreute und vergeßliche
Reisegefährte, sein einziges Gepäckstück, das Zahnbürstel, habe droben
verlieren können. Hatte er Angesichts der gigantischen Bergwelt
plötzlich ein unüberwindliches Verlangen empfunden, seine Zähne zu
putzen? Das war nicht ausgeschlossen, als glaubwürdigste Even-
tualität wurde aber proponirt. er habe das Zahnbürstel an Stelle
des Fernrohrs zur Hand genommen, um die Gegend zu betrachten,
und habe es. als er erkannte, daß es sich hierzu nicht eigne, weg-
geworfen.
„Nächstes Jahr besteigen wir den Wendelstein wieder", wurde
er getröstet, „dann holen wir Dein Zahnbürstel."
„Wenn ich's aber inzwischen brauchen thät?" wandte Antonius ein.
Diesen Einwand vermochten die Anderen nicht ganz zu ent-
kräften; sie beschlossen daher, ihrem wackeren Gefährten in aller Stille
ein neues Zahnbürstel zu kaufen; die Genossen Max und Moritz
wurden damit beauftragt, das Geschenk in scherzhafter Weise zu
übermitteln; man wußte, daß sie es verstanden, „die Hosen mit
der Beißzange anzuziehen", wie man in München sagt, wenn Jemand
eine an sich einfache Sache recht umständlich ins Werk setzt.
Der lange Antonius reiste am andern Morgen in die Heimath
zurück, die Anderen hatten noch Zeit und unternahmen eine weitere
Bergtour. —
Es waren seitdem
kaum acht Tage ver-
gangen. da erschien
in der Behausung
des Antonius ein
Polizei-Kommissär
mit zwei Gens-
darmen und er-
klärte. eine Haus-
suchung nach ver-
botenen Schriften
halten zu wollen.
Antonius sah die
Besucher verwun-
dert an. ließ sich
noch einmal ganz
gründlich auseinan-
dersetzen. um was
es sich handle, dann
sagte er:
„Von mir aus
können Sie suchen,
so viel und so lang
Sie mögen. Wann's
a Geld finden, nach-
her sagen Sie's, ich
kunnt' grad oans
brauchen."
DieBeamten such-
ten ziemlich planlos
und schauten oft
nach den Fenstern;
sie schienen etwas zu
erwarten, und diese
Erwartung wurde
bald erfüllt. Es kam der Packetpostbote und lieferte ein großes
Packet für Herrn Antonius ab. auf welches die Polizei sofort ihre
Hand legte.
Diese Taktik. Postsendungen abzufassen, war unter dem Sozialisten-
gesetz nichts Seltenes. Post- und Polizeibehörden verständigten sich
über die Ablieferuckgszeit des Briefes oder Packetes. man hielt unter
irgend einem Vorwand um diese Zeit Haussuchung und faßte die zu-
fällig ankommende Sendung ab. So blieb das Postgeheimniß bei
Stephan „sicher wie die Bibel auf dem Altar" und nur der „Zufall"
wurde zum treulosen Verräther.
„Wollen Sie das Packet nicht öffnen", fragte der Kommissar
Antonius.
„Fallt mir nit ein! Bin nit neugierig", bemerkte Antonius. der
von der ganzen Haussuchung sehr wenig Notiz nahm.
„Dann müssen wir zur amtlichen Eröffnung schreiten."
„Thun Sie. was Sie nicht lassen können", sagte Antonius, wäh-
rend er sich eine Zigarre anbrannte.
Die starken Stricke, welche das Packet zusammenhielten, wurden
durchschnitten. Die Umhüllung von grauer Pappe fiel. Es kam
Ls kam der Packetpostbote und lieferte ein großes Packet für Herrn Antonius ab,
auf welches die Polizei sofort ihre Hand legte.