Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 13.1896

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8183#0014
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
2104 • -

schrieb er sein berühmtes Werk, das schöne Volksbuch „Lieuhard und
Gertrud", welches gewaltiges Aufsehen machte, ihm aber dennoch keinen
Weg zur Verwirklichung seiner Ideen bahnte. Trotz des enthusiastischen
Lobes, das dem Buche überall gespendet wurde, begriffen doch nur sehr
Wenige seine wahre Bedeutung. Man nahm es als einen die damalige
Lesesucht ansprechenden Roman. Es war aber weit mehr: ein höchst
gelungenes „Gemälde" seiner revolutionären pädagogischen Ideale. Einen
Kommentar hierzu, „Christoph und Else", schrieb er 1782. Das von ihm
im gleichen Jahre herausgegebene „Schweizerblatt", durch welches er seine
Ideen zu verbreiten suchte, ging schon im folgenden Jahr ein.

Er hatte seit 1780 keinen festen Wohllsitz und lebte an verschiedenen
Orten der Schweiz, im Kampf ums tägliche Brot oft unter schweren
Sorgen ringend. 1792 unternahm er eine größere Reise nach Deutsch-
land zum Besuch seiner in Leipzig verheiratheten Schwester. Diese Reise
brachte ihn mit Klopstock, Wieland, Herder, Jacoby und Goethe zusammen.
1793 erhielt er einen längeren Besuch von Fichte, dem ihm geistesver-
wandten, von unserem Lassalle so hoch gefeierten Philosophen, der die Päda-
gogik mit manchen bedeutenden Gedanken befruchtet und zweifelsohne
anregend auf Pestalozzi gewirkt hat, was auch sein 1797 erschienenes Buch:
„Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der
Entwicklung des Menschengeschlechts" erkennen läßt. Dieses
Buch namentlich, in dem er auch die religiösen, politischen und sozialen
Verhältnisse mit überraschendem Klarblick und Freimuth beleuchtet, zeigt,
welche starke sozialistische Ader in dein Mann pulsirte. Mit wachsenden
Sympathien wendete er sich den durch die französische Revolution hervor-
gerufenen Reformbewegungen im schweizerischen Staatsleben zu.

Die helvetische Staatsumwälzung von 1798 brachte Männer ans
Ruder, die eine volksthümliche Politik einschlugen. Pestalozzi sah darin
die Morgenröthe einer besseren Zeit auch für den Volksunterricht, schrieb
Broschüren und Flugschriften und nahm die Redaktion eines Volks-
blattes an. Die neue Regierung ließ in der That ein Unterrichtsgesetz j
vorbereiten und faßte die Ernennung von Erziehungsräthen und Schul-
inspekloren und die Errichtung von Lehrerbildungsanstalten ins Auge.
Auch für Pestalozzi fing nun der Horizont an, sich aufzuhellen. Fran-
zösische Truppen hatten den Kanton Niederwalden (Nidwalden) verheert
und Stanz verbrannt. Eine Menge vater- und mutterloser Waisen
irrten umher. Die Regierung errichtete daher in Stanz ein Waisen-
haus in einem alten verfallenen Kloster und berief Pestalozzi zum Leiter
desselben. Freudig folgte er deni Ruf, der ihin Gelegenheit gab, dem
Drang seines Herzens ganz und voll Genüge zu thun. Bald hatte er
achtzig Waisen um sich gesammelt, die meisten in körperlich, geistig und
sittlich verkommenstem Zustande. Viele traten mit eingewurzelter Krätze
ein, so daß sie kaum gehen konnten, viele init aufgebrochenen Köpfen, viele
mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, andere abgemergelt wie
Gerippe. Eine einzige Haushälterin ausgenommen, eröffnete er die Anstalt
allein ohne Gehilfen, weder für den Unterricht noch für das Hauswesen.
„Er war den Waisen Vater, Mutter, Lehrer, Hausknecht und Magd
zugleich." Er aß, trank, schlief mit ihnen, unter ihnen, er weinte und
lachte, litt und freute sich mit ihnen als Gleicher unter Gleichen. So
ging er in selbstloser Hingebung an sein großes Ideal auf. So sorgen-
voll, müh- rind armselig seine Existenz in jener Zeit mar, war sie doch
glücklicher für ihn als später die glänzende Zeit seines Ruhmes. Nach
einem Jahr angestrengtester rastloser Thätigkeit wurde Stanz abermals
von Franzosen beseht, die das Waisenhaus in ein Lazareth umwandelten.
Die Kinder mußten entlassen werden und Pestalozzi ging nach Burgdorf
im Kanton Bern und erhielt im Juli 1799 die Erlaubniß, in der Dorf-
schule Unterricht ertheilen zu dürfen, ohne Belohnung. Im folgenden
Jahre aber brachte ein Lehrer Krüsi eine Schaar verlassener Kinder nach
Burgdorf und mit ihm vereinigte sich nun Pestalozzi zur Errichtung einer
Waisenanstalt, in welcher Kinder aus den besonders durch den Krieg
verarmten Kantonen Aufnahme fanden. Mit dieser Anstalt verband er seine
Schule. Nachdem er beinah ein Jahr „als willenloser Winkelschulmeister
den bloßen ABC-Karren gestoßen",faßte er den Entschluß, außer demWaisen-
hause noch eine Pensionsanstalt und ein Schulmeisterseminar zu
gründen. Der wachsende Ruf der Anstalt führte ihm von allen Seiten
Zöglinge zu, zum Theil aus weiter Ferne. Männer kamen, um sich in die
Geheimnisse seiner Lehrkunst von ihm einweihen zu lassen. Als 1801 sein
Hauptwerk: „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" erschien, wurden auch
auswärtige Regierungen auf ihn aufmerksam und schickten Abgeordnete
iiach Burgdorf, die mit Enthusiasmus für seine Persönlichkeit wie für sein
Schaffen und Wirken zurückkehrten. Unter seinen literarischen Publikationen
sind noch zu nennen: „Das Buch der Mütter" (1803) und „Anschauungs-
lehre der Blaß- und Zahlenverhältnisse" (1803 bis 1804). Nun fehlte es
ihm auch nicht an Ehren. Die französische Nationalversammlung, die
ihn zum Ehrenbürger ernannt hatte, forderte ihn auf, das Erziehungs-
wesen in Frankreich zu reorganisiren. Als Mitglied der Schweizer-

deputation ging er 1803 mit nach Paris und übergab dem ersten Konsul
Napoleon seine Denkschrift: „lieber das, was der Schweitz Noth thue".
1804 mußte er Burgdorf wieder räumen und verlegte seine Anstalt
zunächst nach Münchenbuchsee. Während dessen wurden ihm von
mehreren Städten Anerbietungen gemacht, ihm Schlösser und Wohnungen
unter vortheilhaften Bedingungen zu überlassen, darunter von dem „lieb-
lichen" Jferten (Noerden), das ihm die gänzliche Ausbauung seines
Schlosses nach seinem Gutdünken, eine Jahrespension von 100 Louisd'or,
das Stadtbürgerrecht und noch allerlei andere Vortheile anbot. Er ging
also mit einigen Gehilfen dorthin und gründete eine neue Anstalt. Die
Zahl der Zöglinge wie der Lehrer und Gehilfen wuchs rasch. Seine
geringe freie Zeit verwendete er auf die Abfassung politischer, sozialer
und pädagogischer Abhandlungen und auf die Herausgabe seiner sämmt-
lichen Werke, die 1826 bei Cotta erschienen. Die Universität Breslau
ernannte ihn 1817 zum Doktor der Philosophie. Sein Institut erlangte
Weltruf. — Aber es fehlte ihm auch nicht an Neidern und Feinden. Diese
und die Uneinigkeit unter den Lehrern, aus welcher überaus traurige
Zerwürfnisse entsprangen, untergruben die Anstalt und führten schließlich
ihren Untergang herbei. Pestalozzi, der sich bis in sein spätes Alter mit
stets neuen Plänen trug, mußte 1825 in tiefster ökonomischer Bedrängniß
die Anstalt auflösen. „Es war mir", sagt er, „als machte ich mit diesem
Rücktritt meinem Leben selbst ein Ende." Der Achtzigjährige fand Auf-
nahme auf dem jetzt von seinem Enkel bewirthschafteten Gut Neuhof,
wo er 1826 seine „Lebensschicksale" verfaßte, und hernach den „Schwanen-
gesang", sein letztes pädagogisches Verniächtniß. Gram über eine Schmäh-
schrift warfen ihn aufs Krankenlager. Auf Wunsch seines Arztes ward
er nach Brugg übergeführt, wo er am 17. Februar 1827 sanft entschlief,
verarmt, vergessen, mit gebrochenem Herzen. In dem Dorfe Birr ward
sein Leichnam bestattet. Seit seinem hundertjährigen Geburtstag ist über
seinem Grab ein Brustbild angebracht mit folgender Inschrift:

Hier ruht

Heinrich Pestalozzi
geb. in Zürich am 12. Januar 1746,
gest. in Brugg den 17. Hornung 1827.

Retter der Armen auf Neuhof,

Prediger des Volkes in Lienhard und Gertrud,

Zu Stanz Vater der Waisen,

Zu Burgdorf und Müuchenbucha
Gründer der neuen Volksschule,

In Jfferten Erzieher der Menschheit.

Mensch, Christ, Bürger.

Alles für Andere, nichts für sich.

Segen seinem Namen.

Die Sükularfeier seiner Geburt hat auch seinen Namen wieder in
weiteren Kreisen aufgefrischt und dem pädagogischen Publikum zum Bewußt-
sein gebracht, wie groß der Einfluß des außerordentlichen Mannes auf
das gesammte Schulwesen und zumal wie stark cr auf die Volksbildung
eingewirkt hat. So anfechtbar in manchen Punkten seine Methode ist und
obgleich die wichtigsten seiner pädagogischen Grundsätze schon früher uoit
Einzelnen erkannt worden waren: ihm erst war es beschieden, sie praktisch
zur Geltting zu bringen und für die Erziehungswissenschaft und -Kunst
den festen Grund zu legen, weil er die Pädagogik im Lichte der
sozialen Idee des allgemeinen Volkswohls erfaßt und als
feuriger Apostel in nimmer ermüdender Zähigkeit und Ausdauer für sein
Ideal gewirkt und gelitten hat.

In Deutschland, speziell in Preußen, wurde mährend der Napoleon-
schen Herrschaft den Pestalozzischen Ideen lebhaftes Interesse entgegen-
gebracht. Aber mit den sogenannten Freiheitskriegen gewannen auch im
Volksschulwesen die klerikale,. feudalen Anschauungen wieder die Ober-
hand. Wagte es doch noch in den Fünfziger Jahren ein preußischer Minister
der Volksvertretung zu erklären: „Die höheren Stände sind im Besitze aller
Bildungsmittel, die unteren sollen sie gar nicht haben. Das Volk darf
nicht weiter unterrichtet werden, als es zu seiner Arbeit paßt". Obgleich
Preußen seinen Adolf Diesterweg hat!:, den „deutschen Pestalozzi", der
die Volkspädagogik ganz im Geiste des großen Schweizers fortentwickelte, ist
noch heute das Volksbildungswesen das Stiefkind neben dem Schooß-
kind Militarismus. Und mit dem Wachsthum der Sozialdemokratie
ward die Volksbildung nicht allein vernachlässigt, sondern gefürchtet, ge-
fürchtet auch von der Bourgeoisie, die in der Aera des Liberalismus der
Volksbildung zugethan war, von der sie mit Recht eine Förderung ihrer
kapitalistischen Interessen erwartete. Regierungen und Junker und Pfaffen
und Protzen scheuen die Volksaufklärung wie Eulen und Käuzchen und
Fledermäuse das Tageslicht. Um so eifriger und energischer hat sich die
Sozialdemokratie der Volksbildung und Volksaufklärung angenommen.

Die Sozialdemokratie ist die Testamentsvollstreckerin
Pestalozzis.

Verantwortlich für die Redaktion Georg Baßler in Stuttgart. — Druck lind Verlag von I. H. W. Dietz in Stuttgart.
 
Annotationen