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Der Achtslunöentag.
Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Muße, acht Stunden Schlaf —
das sind die drei Achten, in denen sich das Sehnen des Volkes nach Er-
lösung von der entmenschlichenden, abstmnpfenden, quälenden Ueberarbeit
des heutigen Tages kurz und energisch ausdrückt. Ob sich in diesem Schlag-
wort die dunkle Erinnerung an die vergangenen glücklicheren Zeiten des
kürzeren, mittelalterlichen Arbeitstages erhalten hat, ob es moderner seinen
Ursprung dem Entstehen der Maschineniudustrie verdankt, die den Arbeiter
aus einem Menschen zum stumpfen Anhängsel der Maschine machte, —
was thut es? Das Ideal ist da: es ist ein machtvolles Ideal, das die
Gemüther der Arbeiterklasse mit gewaltiger Kraft beherrscht; es ist ein
Ideal, dem der fortgesetzte, schmerzvolle Gegensatz zur Wirklichkeil iuuner
neue wachsende Kraft zuführt.
Wie weit das Ideal noch entfernt ist, wird uns ein kurzer Ueber-
blicf über die in den wichtigsten Staaten bestehende Arbeitszeit zeigen. Be-
ginnen wir mit dem Lande, dessen Fabrikarbeiter nach den Worten Marx'
die Preisfechter der modernen Arbeiterklasse waren, mit England. Die
qualifizirten Arbeiter dieses Landes, welche die großen und mächtigen
Gemerkvereine der Maschinenbauer, Eiscnschisfsbauer, Zimmerleute,
Maurer, Steinmetzen, Setzer u. s. f. bilden, sind bereits einem Acht-
stundentage sehr nahe gekommen. Ihre Arbeitszeit schwankt in den
größeren Städten zwischen 48 und 56 Stunden die Woche. Aber neben
dieser Aristokratie giebt es große Klassen, in denen eine zwölf- bis
vierzchnstündige Arbeitszeit das gewöhnliche ist. Zu diesen gehören in
erster Linie bie Eisenbahnbediensteten, die Pferdebahnbediensteten, die
Ladeugehilfeu, die Bäcker und alle in den Haus- und Schwitzindustrien
beschäftigten Personen. Noch viel länger ist die Arbeitszeit in Deutsch-
land, wie sie die Untersuchungen der Kommission für Arbeiterstatistik
z. B. in den Gewerben der Bäcker und Zuckerbäcker, der Kellner und
Handlungsgehilfen, sowie der Getreidemühlenarbeitcr nachgewiesen haben.
Hier arbeiteten in beit meisten großen Städten 30 Prozent der Bäcker
über 14 Stunden; in beit Dampfmühlen arbeiteten 43,5 Prozent der
Arbeiter bis zu 12 Stunden, 31,3 Prozent 12 bis 14 Stunden; in den
Windmühlen waren die betreffenden Zahlen: bis zu 12 Stunden 74 Pro-
zent; 12 bis 14 Stunden 14,2 Prozent, in den Wassermühlen: bis zu
12 Stunden 43,3 Prozent, 12 bis 14 Stunden 15,6 Prozent. In den
letztgenannten Betrieben war die Arbeitszeit eine geradezu unsinnig
lange; 14 bis 16 Stunden arbeiteten nämlich 18 Prozent und über
16 Stunden 22,6 Prozent der Arbeiter. Im Allgemeinen herrscht in der
Fabrikindustrie ein Arbeitstag von 10 bis 12 Stunden, der nach Bedürf-
niß um eine bis zwei Stunden verlängert wird. Ueber die Länge der
Arbeitszeit in den Gewerben, in denen der Klein- beziehungsweise Haus-
betrieb vorwiegt, läßt sich nichts Bestimmteres sagen. Sie hat nur das
eine Bestreben, sich ins maßlose auszudehncn und Arbeitszeiten über
zwölf und bis zu achtzehn Stunden sind gewöhnlicher, als solche unter
zwölf Stunden. In Frankreich, wo der Kleinbetrieb in der Industrie
mindestens noch so verbreitet ist, wie in Deutschland, begegnen wir der-
selben, alle Kleinbetriebe auszcichnenden grenzenlosen Arbeitszeit.
Die kürzeste Arbeitszeit herrscht in den australischen Kolonien. In
Melbourne gelang es einer Bewegung unter den Arbeitern, die ihren
Ausgang von den Steinmetzen nahm, bereits im Jahre 1856 den Acht-
stundentag zu erobern. Innerhalb weniger Jahre verbreitete sich die Be-
wegung nach Sidney, Brisbane, Adelaide und den meisten Städten Neu-
Seelands. Aber auch in diesen Kolonien sind es allein die gelernten Arbeiter
und eine kleine Minorität von Tagarbeitern, denen die Segnungen des Acht-
stundentages zn gute kommen. Die Untersuchungen der königlichen Kom-
mission in den achtziger Jahren über die thatsächliche Tauer der Arbeitszeit
enthüllten in dem Bäckercigewcrbe, unter den Ladengehilfen u. s. f. Arbeits-
zeiten, die sich den längsten in Europa gearbeiteten würdig au die Seite
stellen konnten. Seitdem ist es in diesen Gewerben etwas besser geworden;
aber der Ausfall des großen Streiks von 1890, der mit einem Siege
des Unternehmerthums endigte, sowie die in den letzten Jahren das Land
verwüstende Industrie- und Handelskrise sind gerade nicht sehr günstig
für die weitere Herabsetzung der Arbeitszeit gewesen. Wie in Australien,
liegen auch die Verhältnisse in Amerika. Neben achtstündiger Arbeitszeit
in dem einen Staat herrscht in einem anderen für dasselbe Gewerbe
eine zehn- bis zwölfstündige. Im Allgemeinen gilt für die Privat-
betriebe ein zehnstündiger Arbeitstag, der aber in den Gewerben, in
denen eine lange Arbeitszeit gewöhnlich ist, wie im Transportgewerbe, in
Zweite Leilage zum „wahren Jacob" Ar. 255.
der Bäckerei, unter den Ladengehilfcn um ebensoviel länger ist, als er im
Baugewerbe unter den zehn Stunden bleibt.
Nach dein langen Ringen während des ganzen Jahrhunderts ist es
also der Arbeiterklasse nur gelungen, die Arbeitszeit für Kinder und jugend-
liche Arbeiter allgemein, für Frauen in bestimmten Gewerben zu beschränken
und gesetzlich festzulegen, und nur die ökonomisch stärksten Theile der Ar-
beiterklasse, die qualifizirten Arbeiter, haben es in einigen Ländern auf dem
Wege der Ucbereinkunft init den Unternehmern zu einem neun-, ja acht-
stündigen Arbeitstag gebracht, dessen Werth durch die außerordentlich ver-
breitete spstematische lleberzeitarbeit ganz bedeutend vermindert wird.
Zeit für körperliche und geistige Erholung, Zeit für die Ausbildung des
Körpers und Geistes, Zeit für die Erfüllung der Pflichten, die sic als Eltern,
als Bürger, als Menschen zu erfüllen haben und die zu erfüllen sie leiden-
schaftlich wünschen — das ist cs, was der Arbeiter von einer Verkürzung
der Arbeitszeit in erster Linie erwartet. Zeit für körperliche Erholung
und Ausbildung! Daß eine zwölf- und mehrstündige Arbeitszeit, selbst
wenn die Arbeit an und für sich nicht ungesund und die bfn Arbeiter
umgebenden Verhältnisse den Anforderiuigen der Fabrikhygieue völlig ent-
sprechen, seine körperliche Kraft vorzeitig abnützt und den kräftigen Mann
zum frühen Greise macht, wird uou allen Aerzten, die auch nur eine
geringe Kenntnis; von dem Leben der Arbeiter besitzen, ohne weiteres zu-
gegeben. Zahllose Gewerbe zeichnen sich aber geradezu durch außerordent-
liche Gesundheitsschädlichkeit aus, wie die Bleiweißfabrikation, die Gewerbe
der Maschinenheizer, der Eisen- und Stahlarbeiter u. s. f., und von der
Mehrzahl der Gewerbe eines Landes läßt sich allgeniein behaupten, daß
sie für die Gesundheit nicht zuträglich sind. So weit die Nation ihrer
unbedingt bedarf, bleibt nur das eine Mittel, die Dauer ihrer schädlichen
Einwirkungen aus den Körper des einzelnen Arbeiters möglichst zu be-
schränken. Je kürzer der Arbeitstag, desto besser für die Gesundheit der
Arbeiterklasse, desto besser für die physische Kraft der Nation, die ja durch-
aus auf der Blüthc derselben beruht. Eine Verkürzung der Arbeitszeit
kann aber ihre vollen, die Gesundheit fördernden Wirkungen erst dann
ausübcn, wenn sie den Achtstundentag erreicht hat. Ein achtstündiger
Arbeitstag zerfällt ganz naturgemäß in zwei Hälften von je vier Stunden,
und ermöglicht es, die Arbeit um sieben oder acht Uhr, statt um sechs Uhr,
zu beginnen. Der spätere Anfang bedeutet aber für den Arbeiter längeren
Schlaf und ein Frühstück vor der Arbeit zu Hause, anstatt daß er, wie
jetzt, vorfrüh aufstehcu, einige Stunden mit leerem Magen arbeiten und
sein Frühstück, wo er Platz findet, einnehmeu muß. Leider sind wir nicht
im Staude, den direkten Einfluß dieser Einrichtung auf die Gesundheit
der Arbeiterklasse bemessen zu können, aber eine allgenieine Ueberlegung
muß zur Genüge zeigen, daß sie ein nicht zu unterschätzender Faktor für
die größere und frühere Sterblichkeit derselben ist. So lange das ganze
Leben der Arbeiterklasse eine lange Mühsal ist, so lange eine zehn-, zwölf-
und mehrstündige Arbeitszeit, meist in öder monotoner Arbeit verbracht,
ihre Körper aussaugt, vor der Zeit altert und ihnen alles raubt, was
die Schönheit des menschlichen Körpers ausmacht, kann natürlich von
einer gymnastischen Ausbildung derselben keine Rede sein. Hier wirkt
eine bedeutende Verkürzung der Arbeitszeit geradezu Wunder. Die Lust
an Spielen, wie Fußball, Cricket u. s. f„ an gymnastischen Wettkämpfen,
am Sport zeichnet z. B.die englische, amerikanische und australische Arbeiter-
klasse, so weit sie eben im Besitz eines acht- oder neunstündigen Arbeits-
tages und des Sonnabeud-Halbfeiertages ist, aufs Vortheilhafteste aus. Die
Fußballspieler Lancashires, Norkshires, der Kohlen- und Eisengrafschasten
sind berühmt. Aehnliches zeigt sich in Deutschland, wenn auch nicht so
allgemein, in der steigenden Theilnahme der Arbeiter am Turnen.
Was für den Körper gilt, gilt in noch höherem Maße für den Geist.
Der durch eine übermäßige Arbeitszeit ermattete Arbeiter ist begreiflicher
Weise nur für solche Vergnügungen empfänglich, die seine erschöpften
Nerven zu erregen wissen, und daß für ihn eine Verkürzung der Arbeits-
zeit anfänglich nur die Gelegenheit zu Trunk und anderen Ausschweifungen
vermehren wird, ist nur natürlich. Nichts lernt aber eine ausstcigendc
Klasse schneller, als von ihrer Freiheit den richtigen Gebrauch zu machen.
Daß dieser Drang nach Bildung, diese Sehnsucht, theilzunehmen an den
reichen Gütern, welche die geistige Entwicklung der Menschheit zusammcn-
gehäuft hat und die nicht mehr wie noch vor einem halben Jahrhundert
aus unerreichbarer Ferne ihnen ein mattes Licht senden, in der Arbeiter-
klasse steckt und wirkt, das beweist ihre Theilnahme an den Vorträgen
(Fortsetzung auf Seite 2178.)
Der Achtslunöentag.
Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Muße, acht Stunden Schlaf —
das sind die drei Achten, in denen sich das Sehnen des Volkes nach Er-
lösung von der entmenschlichenden, abstmnpfenden, quälenden Ueberarbeit
des heutigen Tages kurz und energisch ausdrückt. Ob sich in diesem Schlag-
wort die dunkle Erinnerung an die vergangenen glücklicheren Zeiten des
kürzeren, mittelalterlichen Arbeitstages erhalten hat, ob es moderner seinen
Ursprung dem Entstehen der Maschineniudustrie verdankt, die den Arbeiter
aus einem Menschen zum stumpfen Anhängsel der Maschine machte, —
was thut es? Das Ideal ist da: es ist ein machtvolles Ideal, das die
Gemüther der Arbeiterklasse mit gewaltiger Kraft beherrscht; es ist ein
Ideal, dem der fortgesetzte, schmerzvolle Gegensatz zur Wirklichkeil iuuner
neue wachsende Kraft zuführt.
Wie weit das Ideal noch entfernt ist, wird uns ein kurzer Ueber-
blicf über die in den wichtigsten Staaten bestehende Arbeitszeit zeigen. Be-
ginnen wir mit dem Lande, dessen Fabrikarbeiter nach den Worten Marx'
die Preisfechter der modernen Arbeiterklasse waren, mit England. Die
qualifizirten Arbeiter dieses Landes, welche die großen und mächtigen
Gemerkvereine der Maschinenbauer, Eiscnschisfsbauer, Zimmerleute,
Maurer, Steinmetzen, Setzer u. s. f. bilden, sind bereits einem Acht-
stundentage sehr nahe gekommen. Ihre Arbeitszeit schwankt in den
größeren Städten zwischen 48 und 56 Stunden die Woche. Aber neben
dieser Aristokratie giebt es große Klassen, in denen eine zwölf- bis
vierzchnstündige Arbeitszeit das gewöhnliche ist. Zu diesen gehören in
erster Linie bie Eisenbahnbediensteten, die Pferdebahnbediensteten, die
Ladeugehilfeu, die Bäcker und alle in den Haus- und Schwitzindustrien
beschäftigten Personen. Noch viel länger ist die Arbeitszeit in Deutsch-
land, wie sie die Untersuchungen der Kommission für Arbeiterstatistik
z. B. in den Gewerben der Bäcker und Zuckerbäcker, der Kellner und
Handlungsgehilfen, sowie der Getreidemühlenarbeitcr nachgewiesen haben.
Hier arbeiteten in beit meisten großen Städten 30 Prozent der Bäcker
über 14 Stunden; in beit Dampfmühlen arbeiteten 43,5 Prozent der
Arbeiter bis zu 12 Stunden, 31,3 Prozent 12 bis 14 Stunden; in den
Windmühlen waren die betreffenden Zahlen: bis zu 12 Stunden 74 Pro-
zent; 12 bis 14 Stunden 14,2 Prozent, in den Wassermühlen: bis zu
12 Stunden 43,3 Prozent, 12 bis 14 Stunden 15,6 Prozent. In den
letztgenannten Betrieben war die Arbeitszeit eine geradezu unsinnig
lange; 14 bis 16 Stunden arbeiteten nämlich 18 Prozent und über
16 Stunden 22,6 Prozent der Arbeiter. Im Allgemeinen herrscht in der
Fabrikindustrie ein Arbeitstag von 10 bis 12 Stunden, der nach Bedürf-
niß um eine bis zwei Stunden verlängert wird. Ueber die Länge der
Arbeitszeit in den Gewerben, in denen der Klein- beziehungsweise Haus-
betrieb vorwiegt, läßt sich nichts Bestimmteres sagen. Sie hat nur das
eine Bestreben, sich ins maßlose auszudehncn und Arbeitszeiten über
zwölf und bis zu achtzehn Stunden sind gewöhnlicher, als solche unter
zwölf Stunden. In Frankreich, wo der Kleinbetrieb in der Industrie
mindestens noch so verbreitet ist, wie in Deutschland, begegnen wir der-
selben, alle Kleinbetriebe auszcichnenden grenzenlosen Arbeitszeit.
Die kürzeste Arbeitszeit herrscht in den australischen Kolonien. In
Melbourne gelang es einer Bewegung unter den Arbeitern, die ihren
Ausgang von den Steinmetzen nahm, bereits im Jahre 1856 den Acht-
stundentag zu erobern. Innerhalb weniger Jahre verbreitete sich die Be-
wegung nach Sidney, Brisbane, Adelaide und den meisten Städten Neu-
Seelands. Aber auch in diesen Kolonien sind es allein die gelernten Arbeiter
und eine kleine Minorität von Tagarbeitern, denen die Segnungen des Acht-
stundentages zn gute kommen. Die Untersuchungen der königlichen Kom-
mission in den achtziger Jahren über die thatsächliche Tauer der Arbeitszeit
enthüllten in dem Bäckercigewcrbe, unter den Ladengehilfen u. s. f. Arbeits-
zeiten, die sich den längsten in Europa gearbeiteten würdig au die Seite
stellen konnten. Seitdem ist es in diesen Gewerben etwas besser geworden;
aber der Ausfall des großen Streiks von 1890, der mit einem Siege
des Unternehmerthums endigte, sowie die in den letzten Jahren das Land
verwüstende Industrie- und Handelskrise sind gerade nicht sehr günstig
für die weitere Herabsetzung der Arbeitszeit gewesen. Wie in Australien,
liegen auch die Verhältnisse in Amerika. Neben achtstündiger Arbeitszeit
in dem einen Staat herrscht in einem anderen für dasselbe Gewerbe
eine zehn- bis zwölfstündige. Im Allgemeinen gilt für die Privat-
betriebe ein zehnstündiger Arbeitstag, der aber in den Gewerben, in
denen eine lange Arbeitszeit gewöhnlich ist, wie im Transportgewerbe, in
Zweite Leilage zum „wahren Jacob" Ar. 255.
der Bäckerei, unter den Ladengehilfcn um ebensoviel länger ist, als er im
Baugewerbe unter den zehn Stunden bleibt.
Nach dein langen Ringen während des ganzen Jahrhunderts ist es
also der Arbeiterklasse nur gelungen, die Arbeitszeit für Kinder und jugend-
liche Arbeiter allgemein, für Frauen in bestimmten Gewerben zu beschränken
und gesetzlich festzulegen, und nur die ökonomisch stärksten Theile der Ar-
beiterklasse, die qualifizirten Arbeiter, haben es in einigen Ländern auf dem
Wege der Ucbereinkunft init den Unternehmern zu einem neun-, ja acht-
stündigen Arbeitstag gebracht, dessen Werth durch die außerordentlich ver-
breitete spstematische lleberzeitarbeit ganz bedeutend vermindert wird.
Zeit für körperliche und geistige Erholung, Zeit für die Ausbildung des
Körpers und Geistes, Zeit für die Erfüllung der Pflichten, die sic als Eltern,
als Bürger, als Menschen zu erfüllen haben und die zu erfüllen sie leiden-
schaftlich wünschen — das ist cs, was der Arbeiter von einer Verkürzung
der Arbeitszeit in erster Linie erwartet. Zeit für körperliche Erholung
und Ausbildung! Daß eine zwölf- und mehrstündige Arbeitszeit, selbst
wenn die Arbeit an und für sich nicht ungesund und die bfn Arbeiter
umgebenden Verhältnisse den Anforderiuigen der Fabrikhygieue völlig ent-
sprechen, seine körperliche Kraft vorzeitig abnützt und den kräftigen Mann
zum frühen Greise macht, wird uou allen Aerzten, die auch nur eine
geringe Kenntnis; von dem Leben der Arbeiter besitzen, ohne weiteres zu-
gegeben. Zahllose Gewerbe zeichnen sich aber geradezu durch außerordent-
liche Gesundheitsschädlichkeit aus, wie die Bleiweißfabrikation, die Gewerbe
der Maschinenheizer, der Eisen- und Stahlarbeiter u. s. f., und von der
Mehrzahl der Gewerbe eines Landes läßt sich allgeniein behaupten, daß
sie für die Gesundheit nicht zuträglich sind. So weit die Nation ihrer
unbedingt bedarf, bleibt nur das eine Mittel, die Dauer ihrer schädlichen
Einwirkungen aus den Körper des einzelnen Arbeiters möglichst zu be-
schränken. Je kürzer der Arbeitstag, desto besser für die Gesundheit der
Arbeiterklasse, desto besser für die physische Kraft der Nation, die ja durch-
aus auf der Blüthc derselben beruht. Eine Verkürzung der Arbeitszeit
kann aber ihre vollen, die Gesundheit fördernden Wirkungen erst dann
ausübcn, wenn sie den Achtstundentag erreicht hat. Ein achtstündiger
Arbeitstag zerfällt ganz naturgemäß in zwei Hälften von je vier Stunden,
und ermöglicht es, die Arbeit um sieben oder acht Uhr, statt um sechs Uhr,
zu beginnen. Der spätere Anfang bedeutet aber für den Arbeiter längeren
Schlaf und ein Frühstück vor der Arbeit zu Hause, anstatt daß er, wie
jetzt, vorfrüh aufstehcu, einige Stunden mit leerem Magen arbeiten und
sein Frühstück, wo er Platz findet, einnehmeu muß. Leider sind wir nicht
im Staude, den direkten Einfluß dieser Einrichtung auf die Gesundheit
der Arbeiterklasse bemessen zu können, aber eine allgenieine Ueberlegung
muß zur Genüge zeigen, daß sie ein nicht zu unterschätzender Faktor für
die größere und frühere Sterblichkeit derselben ist. So lange das ganze
Leben der Arbeiterklasse eine lange Mühsal ist, so lange eine zehn-, zwölf-
und mehrstündige Arbeitszeit, meist in öder monotoner Arbeit verbracht,
ihre Körper aussaugt, vor der Zeit altert und ihnen alles raubt, was
die Schönheit des menschlichen Körpers ausmacht, kann natürlich von
einer gymnastischen Ausbildung derselben keine Rede sein. Hier wirkt
eine bedeutende Verkürzung der Arbeitszeit geradezu Wunder. Die Lust
an Spielen, wie Fußball, Cricket u. s. f„ an gymnastischen Wettkämpfen,
am Sport zeichnet z. B.die englische, amerikanische und australische Arbeiter-
klasse, so weit sie eben im Besitz eines acht- oder neunstündigen Arbeits-
tages und des Sonnabeud-Halbfeiertages ist, aufs Vortheilhafteste aus. Die
Fußballspieler Lancashires, Norkshires, der Kohlen- und Eisengrafschasten
sind berühmt. Aehnliches zeigt sich in Deutschland, wenn auch nicht so
allgemein, in der steigenden Theilnahme der Arbeiter am Turnen.
Was für den Körper gilt, gilt in noch höherem Maße für den Geist.
Der durch eine übermäßige Arbeitszeit ermattete Arbeiter ist begreiflicher
Weise nur für solche Vergnügungen empfänglich, die seine erschöpften
Nerven zu erregen wissen, und daß für ihn eine Verkürzung der Arbeits-
zeit anfänglich nur die Gelegenheit zu Trunk und anderen Ausschweifungen
vermehren wird, ist nur natürlich. Nichts lernt aber eine ausstcigendc
Klasse schneller, als von ihrer Freiheit den richtigen Gebrauch zu machen.
Daß dieser Drang nach Bildung, diese Sehnsucht, theilzunehmen an den
reichen Gütern, welche die geistige Entwicklung der Menschheit zusammcn-
gehäuft hat und die nicht mehr wie noch vor einem halben Jahrhundert
aus unerreichbarer Ferne ihnen ein mattes Licht senden, in der Arbeiter-
klasse steckt und wirkt, das beweist ihre Theilnahme an den Vorträgen
(Fortsetzung auf Seite 2178.)