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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 13.1896

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https://doi.org/10.11588/diglit.8183#0131
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• 2208

Jean 'Volöers.

Elf Jahre thatkräftigen Kainpfcs für den Sieg demokratischer Ideen;
neun Jahre rastlosen, selbstvcrleugnenden, znknnftsfrohen Wirkens, um
die frohe Botschaft des Sozialismus zu verbreiten, zn popularistre»,
gegen die Feinde zu vertheidigen und die kraftvolle belgische Arbeiter-
partei zu organisiren; und endlich zwei Jahre eines erschütternden
Todeskampfes: so erscheint aus der Vogelschau das politische Leben des
großen Bürgers, den das belgische Proletariat kürzlich zn seiner letzten
Ruhestatt geleitet hat.

Jean Volders wurde am 8. Oktober 1855 in einem echten
Arbeiterviertel von Brüssel geboren. Sein Vater war ein kleiner Tischler-
meister. Jean besuchte bis zu seinem dreizehnten Jahre die Volksschule
und zeichnete sich schon hier durch scharfe, lebhafte Intelligenz und große
Liebe zu geistiger Arbeit aus. Kaum hatte er die Schulbank verlassen,
so war er als Hilfslehrer thätig. Daneben arbeitete er zwei Jahre
lang bei seinem Vater als Tischler; seine Neigung zum Studium
bestimmte ihn jedoch schließlich, sich
ganz dem Lehrerberufe zu widmen.

Allerdings nicht für lange Zeit: bald
trat er als Angestellter tu ein Bank-
haus ein, dann, im Alter von siebzehn
Jahren, in die Nationalbank. Hier
erwarb er sich binnen Kurzem durch
seine Leistungen und Charaktereigen-
schaften hohe Werthschätzung und un-
bedingtes Vertrauen. Zehn Jahre lang
blieb er in der Nationalbank thätig,
bis er seiner politischen Ueberzeugung
seine Stellung opferte.

Als Volders achtzehnJahre zählte,
begann er sich niit Politik zu beschäf-
tigen und zwar als Parteigänger der
bürgerlichen Demokratie. Anfangs
nahm er nur geringen thätigen An-
theil am politischen Leben, aber sein
Kainpfeseifer wuchs in dem Maße,
als er rings um sich das große Elend
der Masse, die auf ihr lastende Un-
gerechtigkeit kennen lernte und von
tiefstem Mitgefühl ergriffen Mittel
zur Hilfe suchte. Da er das Glück
hatte, sich freizuloosen, blieb ihm der
Militärdienst erspart, dafür beschäftigte
er sich eifrig mit der Turnerei, der
von der liberalen Regierung ins Leben
gerufenen Bewegung zu Gunsten der
Schulen und der Frage des allgemeinen
Stimmrechts. In jenen Jahren stand
er noch im Lager der bürgerlichen
Liberalen, gehörte aber stets dem fort-
schrittlichen, dein radikalsten Flügel der-
selben an. Eine sozialistische Partei gab es zu jener Zeit noch nicht.

Die vorhandenen Arbeiterorganisationen verfolgten mtr wirthschaft-
liche Ziele. Volders trat der „Allgemeinen Arbeitervereinigung"
bei, einer Organisation, die keineswegs sozialistisch war, die aber ver-
schiedene demokratische Reformen forderte, und dies besonders im In-
teresse der Handarbeiter. Von nun an weist Volders' Auffassung und
Haltung immer zahlreicher und entschiedener sozialistische Tendenzen auf.
Der in Fluß gekommene, normale und regelmäßige Entwicklungsprozeß
schloß damit, daß der junge Bankbeamte ein begeisterter Anhänger des
Sozialismus wurde. Viele Andere an seiner Stelle würden spieß-
bürgerlich engherzig berechnet haben, welche materielle Schädigung das
rückhaltslose Bekennen der Ueberzeugung zeitigen mußte. Nicht so Jean
Volders. Die Wahrhaftigkeit seines Wesens schloß ein auf dem halben
Wege Stehenbleiben aus. Was sein Herz empfand, sein Geist dachte,
das bekannte sein Mund, dafür trat er mit der ganzen zähen Energie
seines Willens öffentlich ein.

Eine Krisis zeitigte damals für das Brüsseler Proletariat anhal-
tende Arbeitslosigkeit. Die Manifestationen der brotlosen Arbeiter zeigten
erschütternde Bilder der entsetzlichsten Noth. Volders stellte sich an die
Spitze der Manifestanten, welche Arbeit und Brot verlangten und hielt
mehrere Reden, in denen die sozialistische Auffassung klipp und klar
zum Ausdruck kam. Daraufhin verbot ihn: die Nationalbank, ans deni
eingeschlagenen Wege weiter zu schreiten. Volders hatte zwischen seiner
Ueberzeugung und seiner Stelle zu wählen: er theilte den Hohepriestern
der Bank mit, daß er sein Amt niederlege.

Im Juli 1883, achtundzwanzig Jahre alt, beginnt Volders in
der sozialistischen Bewegung seines Landes eine hervorragende Rolle zu
spielen. Er widmete ihr seine volle Kraft, in Tagen, wo der Kampf
uns bittere Enttäuschungen brachte und es der ganzen Macht einer tief-
gewurzeltcn, großherzigen Ueberzeugung bedurfte, um so aufopfernd zu
ivirken, wie Volders wirkte. Seine Biographie ist von nun an die
Geschichte der belgischen Arbeiterpartei: seit ihrer Gründung, während
der schwierigen Jahre der ersten, tastenden Bestrebungen und bis zu
dem Augenblicke, wo der tapfere Kapitän das selbstgezimmerte und ge-
steuerte Schiff glücklich in den Hafen führt, aber von übermenschlichen
Anstrengungen erschöpft dein mächtig pulsirenden Leben entrissen wird.

Er wurde Mitarbeiter am »National Beige«, einem demokratischen
Tageblatt, das für das radikale Programm eintrat. Der Chefredakteur
war ein Franzose, Gabriel Marchi. Als 1884 ein klerikales Kabinct
aus Ruder kam, erfolgten Manifestationen gegen ein Schulgesetz, ivelches

die Regierung einführen wollte. Mair
suchte den König zu bestimmen,
dem Gesetz seine Billigung zu ver-
sagen, und die Bewegung nahm bald
einen ausgesprochen republikanischen
Charakter an. Marchi und seine fran-
zösischen Mitarbeiter wurden in der
Folge aus Belgien ausgewiesen, und
Volders übernahm die Redaktion des
»National«. Seine Mitarbeiter waren
Sozialisten: I. Wilmart, C. de Paepe,
Van Caubergh, Blassoulet, Peclers,
Demblou. Es versteht sich, daß dieser
Wechsel von Einfluß auf die Haltung
des Blattes war.

Seit 1883 waren mehrere Arbeiter-
organisationen gegründet worden, die
außerhalb jeder Partei standen. Es
tauchte nun der Plan auf, sie in
eine einzige Organisation zusammen-
zufassen. Volders trat thatkräftig für
seine Verwirklichung ein; er verstand
wie kein Anderer die Fernstehenden
einander zu nähern, ihnen zum Be-
wußtsein zu bringen, was es Wesent-
liches und Gemeinschaftliches zwischen
ihnen gab. Die „Arbeiterliga von
Brüssel" ward mit der Einberufung
eines Kongresses betraut, der am 5. und
6. April 1885 in der genannten Stadt
tagte. Hier lvurde die Grundlage der
neuen Partei gelegt, welche manche
Delegirte „sozialistische Partei" taufen
wollten, die aber auf Volders' Antrag
hin — der die gemäßigte Richtung ver-
trat — „belgische Arbeiterpartei" genannt wurde. Das Organ der
neuen Partei und der Arbeiterorganisationen war »LaVoix de l’Ouvrier«
(Die Arbeiterstimme).

Die endgiltige Konstituirung der Partei und die Annahme eines
Programms erfolgte ans dem Kongreß zu Antwerpen, der am 15. und
16. August 1885 stattfand. Volders konnte an seinen Arbeiten nicht
theilnehmen, weil er wegen eines Duells mit einem anderen Journa-
listen eine einmonatliche Haftstrafe abbüßte.

Mit dem 8. November 1885 stellte der tapfere »National« sein
Erscheinen ein, „die Zeitung, die alles zu sagen wagte", wie Volders
sich ausdrückte. Am 15. November erschien dafür »La Bepublique«,
ein Wochenblatt, das nur vier Nummern erlebte und dann mit der
»Voix de l'Ouvrier« zusammen zum »Peuple« (Das Volk) verschmolz,
dessen erste Nummer am 13. Dezember 1885 ausgegeben wurde. »Le
Peuple« war ein kleines Tageblättchen zu zivei Centimes, das anfangs
sehr schwer um seine Existenz zu kämpfen hatte. Mit Reck)t betrachtete
Volders die Zeitung als sein Kind. Mehr als acht Jahre lang widmete
er ihr seine volle geistige Kraft. Die Aufgaben als Redakteur hätten
einen noch so begabten Mann völlig in Anspruch genommen. Jean
Volders dagegen war nicht blos Journalist, er war auch Redner und
Organisator.

Sein Arbeitstag begann in der Zeitung, spann sich dann in öffent-
liche Versammlungen hinüber und endete gewöhnlich sehr spät Nachts
in Sitzungen der Parteiorganisationen. Er legte den Grund zum Ent-
stehen von Hunderten von Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften
 
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