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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 13.1896

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https://doi.org/10.11588/diglit.8183#0267
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Aufmerksam, ohne sie zu unterbrechen, horcht der Richter. Es ist
die alte, immer sich wiederholende Geschichte von jugendlichem Wahn,
von heimlicher Licbeswonne und bitterer Enttäuschung.

„Und wann hat der Liebste Sie verlassen?" fragt er, als sie, in
Thränen erstickend, schweigt.

„Neun Wochen vor meiner Niederkunft."

„Und dann konnten Sie keine Stelle mehr finden? Und litten
Hunger und Noth?"

„Wer hätte mich auch in meinem Zustand als Erzieherin brauchen
können?"

„Und dann besuchte Sie Ihr Liebhaber nicht mehr, auch nach Ihrer
Entbindung nicht?"

„Ach ja! Einige Tage darauf."

„Und stand er Ihnen nicht bei mit Rath und That?"

„O, er rieth mir, ich solle — das Kind —"

„Rieth er so? Sie sollen das Kind — ersticken?"

Daü Mädchen schwieg erschrocken.

„Dann ist er auch schuldig —"

„Nein, nein! Er ist nicht schuldig, er darf nicht schuldig sein!"
schrie das Mädchen.

„Und doch kann's nicht anders sein," antwortete der Richter.
„Ihre Schuld ist nur theilweise strafbar. Sie haben das Kind aus
Noth umgebracht — aber er, der keine Noth hatte, mußte er Ihnen
dazu rathen? Wer weiß denn, ob Sie die That begangen hätten,
wenn er Sie nicht dazu veranlaßt hätte. — Sagen Sie, wer war
Ihr Schah?"

„Nein, ach nein! Ich kann's nicht sagen!"

„Sie haben doch keinen Grund, ihn zu schonen. Er hat Sie ins
Unglück geführt."

„Nein, ich kann's nicht sagen, wenn Sie ihm nicht verzeihen."

„Ich bin ja nicht sein Richter. Ihr kommt vor die Geschworenen."

Das Mädchen zaudert noch ein Weilchen; dann tritt sie zitternd
und verwirrt an den Richter heran —

„Nun?"

Sie senkt scheu und doch vertrauensvoll den
Kopf zu dem grauen Richter hinab und ftüftert:
„Verzeihen Sie, Herr Richter, ich bringe seinen
Namen nicht über die Lippen — aber wissen
Sie, der Vater des Kindes, das ich aus Ver-
zweiflung erstickte, war Ihr — Sohn."

„Mein einziger Sohn!" murmelte er und
sank, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend,
in seinem Stuhl zurück.

„Verzeihen Sie ihm!" flehte sie nochmals
und sank auf die Knie.

Der Beamte ermannte sich.

„Gut," sagte er in väterlichem Tone wie
vorher, „ich werde Sie wegen Ihres Liebsten
nicht mehr quälen. Setzen Sie sich, ich werde
Ihre Aussagen protokolliren."

Der Herr Untersuchungsrichter klingelte.
„Herr Kästner," forderte er den eintretendcn
Gerichtsdicner auf, „holen Sie einen Schreiber!"
— „Ob Sie aber nicht selbst," fuhr er nach
einer Pause mit gedämpfter Stimme fort, als
sich die Thüre hinter dein Diener geschlossen,
„bei der Hauptverhandlung auf ihn ausführlich
zu sprechen koininen, das weiß ich nicht."

Die Erzieherin hatte verstanden. Und' sich
setzend, sagte sie:

„O, ich werde allenr auöweichen, was auf ihn
Bezug haben könnte!"

Der Schreiber trat ein. Der Richter erhob
sich, wischte sich den Schweiß von der Stirn und
diktirte ihm das Protokoll.

* *

*

Die Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht nahm einen glatten,
kurzen Verlauf. Die Beweise waren erdrückend, die Angeklagte geständig.
Sie hatte alles gethan, von Noth und Schande zur Verzweiflung
getrieben. Die Geschworenen bejahten mit allen gegen zwei Stimmen
die Schuldfrage, und die Strafe wurde unter Annahme mildernder
Umstände auf sechs Jahre Zuchthaus bemessen.

Unter dein Publikum hatte ein älterer Herr mit ängstlicher
Spannung den Gang des Prozesses verfolgt. Es
war der Untersuchungsrichter. Nach Verkündigmrg
des Strafurtheils wankte er mühsam hinaus. Er
war sichtlich grauer und älter geworden.

Die Verhandlungsberichte in den Zeitringen
waren kurz. Der Fall bot ja nichts neues, nichts
sensationelles.

„Mein einziger Sohn", murmelte er.
 
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