Weib und drei unmündigen Kindern — hilflos, mittellos —, und
morgen war Weihnachten.
Es schlug draußen gerade sieben Uhr, als sich die Thür öffnete
und die traurige dumpfe Stille unterbrochen wurde, die seit einer halben
Stunde in dem von einer kleinen Petroleumlainpe dürftig erhellten
Raume herrschte.
Kurt, sein Aeltester, ein blasser, schmaler Junge von zwölf Jahren,
trat ins Zimmer. Er kehrte eben vom Zeitungsaustragen zurück und
legte das nasse Wachstuch, in das er die einzelnen Nummern einzupacken
pflegte, ans den Tisch.
„Es schneit wohl?" fragte ihn der Vater.
»Ja", gab er zur Antwort, „aber der Schnee bleibt nicht liegen.
Es ist ein schreckliches Matschwetter draußen und kalt dazu." Und
damit stellte er sich nahe der Mutter an den Ofen, um sich die Kleider
zu trocknen.
„Vater", begann er dann nach einer kleinen Weile, „heute habe
ich ein sehr schönes Gedicht gelesen."
„Wo?"
„In einem Blatt, das die Rothen immer austragen. Willst Du
es einmal sehen?"
„Nein", unterbrach ihn
^er Vater mürrisch, „mit den
Leuten will ich nichts zu
ihun haben. Die helfen uns
sicherlich nicht."
„Aber die Anderen —
die Reichen doch auch nicht",
entgegnete ihm sein Junge,
indenr er, die Arme auf
der Brust kreuzend, sich ge-
gen die Wand lehnte und
so selbstbewußt dreinschaute,
als wisse er es besser als
sein Vater. „Und sie wollen
uns auch gar nicht helfen",
fuhr er dann mit erregter
Stimme fort. „Und....
und, wenn sie uns auch
helfen wollten, ich würde
usir gar nicht von ihnen
helfen lassen. Von denen
würde ich nichts annehmen
— gar nichts."
In diesem Augenblick
ließ sich ein Geräusch von Schritten auf den Steinfliesen des Flurs
vernehmen, und gleich darauf trat die kleine siebenjährige Martha in
das Zimmer, das Köpfchen ganz erstaunt nach der von draußen wieder
rasch geschlossenen Thüre wendend.
„Was ist denn los?" fragten sie die Anderen fast gleich-
zeitig. Die Kleine wußte einen Augenblick nicht, was sie antworten
sollte; dann sagte sie mit leiser Stimme: „Der Weihnachtsmann ist
draußen."
„Der Weihnachtsmann?" forschte die Mutter ganz verwundert.
Aber da trat er auch schon in Gestalt einer vornehmen, ganz in Pelz
gehüllten Dame über die Schwelle. In der einen Hand ein brennendes
Bäumchen, das sie auf dem Tisch vvr'm Sopha niedersetzte, in der
anderen die Rechte eines kleinen eleganten Mädchens, rief sie den Leuten
ein „Guten Abend" zu. Darauf nahm sie ihrer Kleinen ein Körbchen
vom Arme, aus dem sie allerlei Sachen hervorholte. Sie sei die Frau
Geheimrath Ncumann, sagte sie, die Frau von dem bekannten Professor,
der so viele arme Kinder unentgeltlich wegen der Augeir behandle. Aber
sie thue auch gern etwas für die Armen, und da sie von dem „Verein
für die Beschccrung würdiger Armen" auf die Familie des Tischlers
Reinhold hingewiesen worden sei, so habe sic nicht Zeit und Mühe gespart,
ihnen eine kleine Wcihnachtsfreude zu bereiten. Und damit legte sie der
Frau Neinhold, die ihr verlegen dankend die Hand drückte, ein Umschlage-
tuch über den Arm, und ihrem Manne, der ein paar Worte von un-
verdienter Güte und seinem Unglück und dem schlechten Wetter draußen
stammelte, ein Paar Socken auf den Tisch. „So, und nun auch etwas
sür die Kinder — wenn sie brav gewesen sind", fuhr die Frau Geheim-
väthin weiter fort.
„Hier, dieses Püppchen schenkt Dir meine Else", und ohne ein
Wort zu sagen reichte es diese der kleinen Martha hin, die ihrerseits
das fremde, elegante Kind mit großen, stummen Augen musterte, als
>väre es ein Wesen aus einer ganz anderen Welt.
„Und nun der Kleine dort!"
„Kurt", rief ihm der Vater zu, da jener noch immer unbeweglich
in seiner alten Stellung am Ofen lehnte. „So komm' doch her; die
Dame lvill Dir etwas schenken." Aber Kurt, der sich wohl ein paar
Schritte der Frau Geheimräthin genähert hatte, blieb in einiger Ent-
fernung wie angewurzelt vor ihr stehen und blickte mit seinen ernsten
Augen fast trotzig zu ihr empor.
Aller Blicke, und besonders die Meister Reinholds, ruhten er-
schrocken auf dem Kleinen.
„Nun, willst Du sie nicht?" fragte die Geheimräthin, ganz starr
über ein solches Auftreten.
Aber Kurt ließ sich nicht aus seiner Ruhe bringen und mit
fester, klarer Stimme antwortete er: „Nein, ich brauche Ihre Hand-
schuhe nicht."
„Aber wenn es erst kalt draußen wird und anfängt zu frieren?"
sagte Frau Neumann in
merklicher Erregung.
„Nein", wiederholte
Kurt noch einmal, mit dem
Kopfe schüttelnd, „ich brauche
Ihre Handschuhe nicht —
und ich will sie auch gar
nicht."
Jetzt wußte Frau Neu-
mann nicht, was sie thun
sollte. Und Meister Rein-
hold wußte es noch viel
weniger. Er stotterte etwas
wie eine Entschuldigung her-
vor und zugleich ein Wort
des Tadels für seinen
Jungen. Und doch klang
es fast, als sage er das
letztere nur der Frau Ge-
heimräthin wegen. Aber
diese ließ ihn auch gar nicht
ausreden, und mit einem:
„Nun, dann nehme ich die
Handschuhe eben wieder mit,
dann schenke ich sie einem
artigeren Kinde, das sie verdient", suchte sie der für alle Thcile pein-
lichen Situation ein Ende zu machen. Hastig nahm sie ihre Else bei
der Hand, und indem sie die wiederholten Dankesbezeugnngen nur
mit einem kurzen „Schon gut, schon gut" beantwortete, verließ sie
eiligen Fußes die Wohnung des Tischlermeisters.
* *
*
Die Kerzen des kleinen Weihnachtsbauines waren längst verloschen
und Frau und Kinder lagen drüben in der kalten Kammer in ihren
Betten und schliefen.
Nur er konnte noch keine Ruhe finden. Den Kopf iir die Hand
gestützt, saß er noch immer in der Ecke deS alten Sophas und sann
und sairn. Er überdachte das vergangene Jahr, und wie bei ihin auf
einmal alles so ganz anders geworden war. Und er dachte auch an die
früheren Jahre, an seine Jugendzeit, daheim im Thüringischen, wo sein
Vater einen kleinen Krämerladen inne gehabt hatte; an seine Eltern,
an seine Schwester. . . . Seine arme, uiiglückliche Schwester! und ein
tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Sie ivar einft als Dienst-
mädchen nach der Stadt gegangen, und danii in die Fabrik, und dann . . .
Er hielt sich die Hand vors Gesicht und zerdrückte ein paar heiße Tropfen
zwischen seinen starken, groben Fingern. Sie hieß auch Martha — gerade
wie sein kleines Mädchen, und nun stieg die Zukunft seiner Kleinen auf
einmal wie ein dunkles, schreckliches Gespenst vor seinen Augen auf.
„Entsetzlich, entsetzlich!" stöhnte er vor sich hin. Und dann ballte er die
Faust, und „Nein, nein!" schrie es in seinem gequälten Innern. Und
da mußte er wieder an den heutigen Abend denken, und an seinen Zwölf-
„Ich brauche Ihre Handschuhe nicht."
morgen war Weihnachten.
Es schlug draußen gerade sieben Uhr, als sich die Thür öffnete
und die traurige dumpfe Stille unterbrochen wurde, die seit einer halben
Stunde in dem von einer kleinen Petroleumlainpe dürftig erhellten
Raume herrschte.
Kurt, sein Aeltester, ein blasser, schmaler Junge von zwölf Jahren,
trat ins Zimmer. Er kehrte eben vom Zeitungsaustragen zurück und
legte das nasse Wachstuch, in das er die einzelnen Nummern einzupacken
pflegte, ans den Tisch.
„Es schneit wohl?" fragte ihn der Vater.
»Ja", gab er zur Antwort, „aber der Schnee bleibt nicht liegen.
Es ist ein schreckliches Matschwetter draußen und kalt dazu." Und
damit stellte er sich nahe der Mutter an den Ofen, um sich die Kleider
zu trocknen.
„Vater", begann er dann nach einer kleinen Weile, „heute habe
ich ein sehr schönes Gedicht gelesen."
„Wo?"
„In einem Blatt, das die Rothen immer austragen. Willst Du
es einmal sehen?"
„Nein", unterbrach ihn
^er Vater mürrisch, „mit den
Leuten will ich nichts zu
ihun haben. Die helfen uns
sicherlich nicht."
„Aber die Anderen —
die Reichen doch auch nicht",
entgegnete ihm sein Junge,
indenr er, die Arme auf
der Brust kreuzend, sich ge-
gen die Wand lehnte und
so selbstbewußt dreinschaute,
als wisse er es besser als
sein Vater. „Und sie wollen
uns auch gar nicht helfen",
fuhr er dann mit erregter
Stimme fort. „Und....
und, wenn sie uns auch
helfen wollten, ich würde
usir gar nicht von ihnen
helfen lassen. Von denen
würde ich nichts annehmen
— gar nichts."
In diesem Augenblick
ließ sich ein Geräusch von Schritten auf den Steinfliesen des Flurs
vernehmen, und gleich darauf trat die kleine siebenjährige Martha in
das Zimmer, das Köpfchen ganz erstaunt nach der von draußen wieder
rasch geschlossenen Thüre wendend.
„Was ist denn los?" fragten sie die Anderen fast gleich-
zeitig. Die Kleine wußte einen Augenblick nicht, was sie antworten
sollte; dann sagte sie mit leiser Stimme: „Der Weihnachtsmann ist
draußen."
„Der Weihnachtsmann?" forschte die Mutter ganz verwundert.
Aber da trat er auch schon in Gestalt einer vornehmen, ganz in Pelz
gehüllten Dame über die Schwelle. In der einen Hand ein brennendes
Bäumchen, das sie auf dem Tisch vvr'm Sopha niedersetzte, in der
anderen die Rechte eines kleinen eleganten Mädchens, rief sie den Leuten
ein „Guten Abend" zu. Darauf nahm sie ihrer Kleinen ein Körbchen
vom Arme, aus dem sie allerlei Sachen hervorholte. Sie sei die Frau
Geheimrath Ncumann, sagte sie, die Frau von dem bekannten Professor,
der so viele arme Kinder unentgeltlich wegen der Augeir behandle. Aber
sie thue auch gern etwas für die Armen, und da sie von dem „Verein
für die Beschccrung würdiger Armen" auf die Familie des Tischlers
Reinhold hingewiesen worden sei, so habe sic nicht Zeit und Mühe gespart,
ihnen eine kleine Wcihnachtsfreude zu bereiten. Und damit legte sie der
Frau Neinhold, die ihr verlegen dankend die Hand drückte, ein Umschlage-
tuch über den Arm, und ihrem Manne, der ein paar Worte von un-
verdienter Güte und seinem Unglück und dem schlechten Wetter draußen
stammelte, ein Paar Socken auf den Tisch. „So, und nun auch etwas
sür die Kinder — wenn sie brav gewesen sind", fuhr die Frau Geheim-
väthin weiter fort.
„Hier, dieses Püppchen schenkt Dir meine Else", und ohne ein
Wort zu sagen reichte es diese der kleinen Martha hin, die ihrerseits
das fremde, elegante Kind mit großen, stummen Augen musterte, als
>väre es ein Wesen aus einer ganz anderen Welt.
„Und nun der Kleine dort!"
„Kurt", rief ihm der Vater zu, da jener noch immer unbeweglich
in seiner alten Stellung am Ofen lehnte. „So komm' doch her; die
Dame lvill Dir etwas schenken." Aber Kurt, der sich wohl ein paar
Schritte der Frau Geheimräthin genähert hatte, blieb in einiger Ent-
fernung wie angewurzelt vor ihr stehen und blickte mit seinen ernsten
Augen fast trotzig zu ihr empor.
Aller Blicke, und besonders die Meister Reinholds, ruhten er-
schrocken auf dem Kleinen.
„Nun, willst Du sie nicht?" fragte die Geheimräthin, ganz starr
über ein solches Auftreten.
Aber Kurt ließ sich nicht aus seiner Ruhe bringen und mit
fester, klarer Stimme antwortete er: „Nein, ich brauche Ihre Hand-
schuhe nicht."
„Aber wenn es erst kalt draußen wird und anfängt zu frieren?"
sagte Frau Neumann in
merklicher Erregung.
„Nein", wiederholte
Kurt noch einmal, mit dem
Kopfe schüttelnd, „ich brauche
Ihre Handschuhe nicht —
und ich will sie auch gar
nicht."
Jetzt wußte Frau Neu-
mann nicht, was sie thun
sollte. Und Meister Rein-
hold wußte es noch viel
weniger. Er stotterte etwas
wie eine Entschuldigung her-
vor und zugleich ein Wort
des Tadels für seinen
Jungen. Und doch klang
es fast, als sage er das
letztere nur der Frau Ge-
heimräthin wegen. Aber
diese ließ ihn auch gar nicht
ausreden, und mit einem:
„Nun, dann nehme ich die
Handschuhe eben wieder mit,
dann schenke ich sie einem
artigeren Kinde, das sie verdient", suchte sie der für alle Thcile pein-
lichen Situation ein Ende zu machen. Hastig nahm sie ihre Else bei
der Hand, und indem sie die wiederholten Dankesbezeugnngen nur
mit einem kurzen „Schon gut, schon gut" beantwortete, verließ sie
eiligen Fußes die Wohnung des Tischlermeisters.
* *
*
Die Kerzen des kleinen Weihnachtsbauines waren längst verloschen
und Frau und Kinder lagen drüben in der kalten Kammer in ihren
Betten und schliefen.
Nur er konnte noch keine Ruhe finden. Den Kopf iir die Hand
gestützt, saß er noch immer in der Ecke deS alten Sophas und sann
und sairn. Er überdachte das vergangene Jahr, und wie bei ihin auf
einmal alles so ganz anders geworden war. Und er dachte auch an die
früheren Jahre, an seine Jugendzeit, daheim im Thüringischen, wo sein
Vater einen kleinen Krämerladen inne gehabt hatte; an seine Eltern,
an seine Schwester. . . . Seine arme, uiiglückliche Schwester! und ein
tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Sie ivar einft als Dienst-
mädchen nach der Stadt gegangen, und danii in die Fabrik, und dann . . .
Er hielt sich die Hand vors Gesicht und zerdrückte ein paar heiße Tropfen
zwischen seinen starken, groben Fingern. Sie hieß auch Martha — gerade
wie sein kleines Mädchen, und nun stieg die Zukunft seiner Kleinen auf
einmal wie ein dunkles, schreckliches Gespenst vor seinen Augen auf.
„Entsetzlich, entsetzlich!" stöhnte er vor sich hin. Und dann ballte er die
Faust, und „Nein, nein!" schrie es in seinem gequälten Innern. Und
da mußte er wieder an den heutigen Abend denken, und an seinen Zwölf-
„Ich brauche Ihre Handschuhe nicht."