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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 13.1896

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https://doi.org/10.11588/diglit.8183#0279
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— 2350

jährigen, den Kurt. Er hatte den Jungen eigentlich gar nicht verstehen
können — und doch auch nicht getadelt, als die Frau Geheimrath
die Thüre hinter sich ins Schloß geworfen hatte. „Ich brauche Ihre
Handschuhe nicht, und ich will sie auch gar nicht." Das wollte ihm
jetzt nicht mehr aus dem Sinn. — Und wie der Kleine in seinen ab-
genutzten, schlechten Kleidern der reichen, vornehnien Dame gegenüber-
stand! — Und was hatte er nur vorher von den reichen Leuten gesagt?
„Sie helfen uns doch auch nicht und sie wollen uns auch gar nicht
helfen." Hatte er im Grunde damit nicht Recht gehabt? War er nicht
selbst vor wenigen Wochen erst bei dem reichen Kommerzienrath Mehnert
gewesen, für den er früher manchmal gearbeitet? Er hatte ihm seine
ganzen Verhältnisse dargelegt, ihm von der theuren Miethe für seine

ES war daS erste Mal, daß er ein solches Blatt zu Gesicht bekam.

Werkstätte gesprochen, und daß er die nun auch ausgcbeu müsse, »venu
ihm nicht irgend ein glücklicher Zufall zu Hilfe käme. — Und was hatte
ihm der Herr Kommerzienrath darauf erwidert? — Er sprach ihm sein
Bedauern aus und tröstete ihn mit den schlechten Zeiten, unter denen
er selber zu leiden habe. Wenn cs wieder eininal etwas zu thun gäbe,
so wolle er an ihn denken.

Da kam ihm plötzlich wieder das Blatt in den Sinn, von dein
ihm sein Kurt vorhin erzählt hatte. Warliin sollte er sich das nicht
wenigstens einmal ansehen? Und er schlich sich hinüber in die Kammer
und suchte in den Kleidern seines Jungen, bis er das Blatt gefunden.
Und dann nahm er es niit herüber, legte es vor sich auf den Tisch,
rückte die Lampe näher und las.

Es war das erste Mal, daß er ein solches Blatt zu Gesicht
bekam; es war ihm alles darin so ganz neu und anders als das,
was er bisher von den Rothen gedacht und gehört hatte. Und doch
war alles so wahr, so schön, so stark, so erhebend und besonders das
Gedicht.

Er legte das Blatt zur Seite und sann über das Gelesene nach.
Und dazwischen dachte er wieder an sich und die Seinigen, und an
seine Zukunft; und daß ihm die Reichen nicht geholfen hätten und
wohl auch in Zukunft nicht helfen würden, — wie sein Junge, der
Kurt, sagte. Denn das Bischen Tannenbaum, das Tuch, die Socken
und die Puppe für seine Kleine. . .. Sollte ihnen das etwa helfen? —
Er mußte lacheu; unwillkürlich packte er das Bäumchen mit festem
Griff und schleuderte es auf den Boden — und lachte von Neuem,

indem er jetzt fast verächtlich auf das Tannengrün zu seinen Füßen
blickte.

Und dann nahm er das Blatt noch einmal zur Hand und las —
bis ihm die Augen fast zufielen. Da erst blies er die Lampe aus
und legte sich auf's Sopha, um hier seine Nachtruhe zu halten.
Aber bis die Natur den müden Körper völlig überwand, wollten
ihm die Verse nicht aus dem Sinn, die er immer und immer wieder
hatte lesen müssen und bis in seine Träume hinein sang es und
klang es:

Du blühender, glühender Völkermai,

Du machst das Volk der Arbeit frei.

Und dienst du auch heute im Elend, ein Knecht,

Deine Kinder sie werden ein freies Geschlecht.

Drum reiche die Hand uns als Bruder, tritt ein,

Der Freiheit, der Zukunft dein Leben zu weihn.

* *

*

Acht Tage waren dahingegangeit. Eine weiße, weiche Schneedecke
lagerte über der Erde, und die Welt schrieb zum ersten Male die
neue Jahreszahl. — Und Meister Reinhold? — Der war ein Anderer
geworden.

Es war am Nachmittag desselbigen Tages, als er wie umgewandelt
mit strahlendem Gesicht ins Zimnrer trat. Seine Frau war im ersten
Augenblicke wie versteinert, als sie ihn so erblickte.

„Was ist Dir denn, Karl?" fragte sie, denn sie hatte ihren
Mann seit Jahren nicht so gesehen. „Was ist Dir denn? Hat Dir
Jemand ein großes Glück bescheert, oder hast Du Arbeit gefunden,
oder . . .?"

Da schlang der Tischlermeister Reinhold seine Arme um den Hals
seines Weibes und blickte ihr stolz in die ehrlichen braunen Augen.

„Ja, Rest, ich habe Arbeit gefunden, aber nicht als selbständiger
Meister, sondern als Arbeiter in einer Fabrik, ganz in der Nähe
meiner alten Werkstätte. Jetzt ist mir leicht und froh zu Muthe und
die bösen Tage werden aufhören, aber noch etwas Wichtigeres bin ich
geworden, nämlich ein ganz neuer Mensch, weißt Du, ein rother,
ein ganz rother. Und das hat mir der Kurt bescheert zum neuen
Jahre!"
 
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