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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 15.1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.8184#0072
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2694

als populär. Seine Bestialität war sprich-
wörtlich im ganzen Lande; er verweilte außer-
dem fast immer im Auslände, lebte in voller
Feindschaft mit seiner ganzen Familie und küm-
merte sich um die Angelegenheiten des Landes
so gut wie gar nicht. Als nun dieser Prozeß
den Namen des Königs auf aller Zungen brachte,
da offenbarte sich die ganze im Volke lebende
Antipathie gegen ihn.

Im September dieses Jahres fand im Haag
eine große Volkskundgebung statt, für die die
Wahlrechtsbewegung alle ihre Kräfte aufgeboten
hatte. Hunderte von Delegirten, verstärkt durch
viele Tausende Arbeiter aus allen Gegenden,
waren anwesend. Die Begeisterung kannte keine
Grenzen; die Wahlrechtsbewegung schien un-
widerstehlich. Da beschloß die Kammer endlich,
im folgenden Jahre die Verfassungsänderung,
welche ja schon iin Jahre 1883 prinzipiell be-
schlossen war, in Angriff zu nehmen.

Die Spannung im Volke, das nun glaubte,
blos noch fordern zu dürfen, um auch die For-
derungen bewilligt zu erhalten, wuchs von Tag
zu Tag. Auch Nieuwenhuis wurde auf Grund
eines Artikels im „Recht voor Allen" wegen
Majestätsbeleidigung zu einem Jahre Gefängnih
verurtheilt. Die Straßenszenen wiederholten
sich. Am Tage der Gerichtssitzung strömten die
Haager Arbeiter zu Tausenden zusammen und
dem Verurtheilten wurde ein Triumphzug be-
reitet, wie nie Jemandem zuvor. Niemvenhuis
war damals der Abgott des Volkes; seine Popu-
larität konnte nicht mehr wachsen. Seine Ver-
urtheilung rief eine wahre Wuth unter den
Arbeitern hervor, daß das Aergste zu erwarten
stand. Das provokatorische Auftreten der Poli-
zei, die sich die brutalsten Gesetzesverletzungen
und die größten Rohheiten zu Schulden kommen
ließ, steigerte die Erbitterung ins Maßlose.

Die Spannung fand ihre Lösung in dem so-
genannten „Paling"aufruhr. Die Polizei wollte
am 28. Juli 1886 in Amsterdam im Volksviertel
„de Jordaan" ein Volksspiel, das sogenannte
„Palingtrekken" (Aalziehe»), verbieten. Die
Theilnehmer gehorchten aber nicht, und als
vier Polizeidiener sich einmengen wollten, kam
das Volk den Spielern zu Hilfe und warf die
Polizisten ins Wasser. Natürlich rückte sofort
Verstärkung an, aber der Widerstand wurde
allgemein, und als am Ende mehrere Hundert
Mann Polizei eingeschritten waren, kam es zu
einer förmlichen Schlacht, die mit der Vertrei-
bung der Polizei aus dem ganzen Stadtviertel
endigte. 'Fast alle Polizeibeamten waren ver-
wundet. Das Volk hatte das Straßenpflaster
aufgebrochen und Barrikaden aufgeworfen.
Bald darauf zog ein Regiment Infanterie und
Artillerie in den „Jordaan" ein. Eine Stunde
später war der Aufruhr beendet, aber 21 Todte,
28 Schwer- und eine Unzahl Leichtverwundete
waren die Opfer dieses Angriffes. Hatten die
Soldaten nicht meistentheils zu hoch geschossen,
so würde man die Tobten nach Hunderten zu
zählen gehabt haben. Ein wahres Schreckens-
regiment, das einige Wochen dauerte, folgte
diesen Tagen. Außer vielen anderen wurden
die sozialdemokratischen Führer Fortuyn und
Van der Stod verhaftet. Etwa 25 Personen
wurden zu Strafen von 6 Monaten bis zu
3 Jahren Gefängniß verurtheilt.

Natürlich hatte dieser Aufruhr nichts mit
der sozialistischen Bewegung zu thun. Trotzdem
wurde er der Partei an die Rockschöße gehängt.
Die Reaktion nutzte ihn weidlich gegen uns aus.
Das Jahr 1887 begann mit der Arrestation
Nieuwenhuis', der am 10. Januar seine Ge-
fängnißstrafe antrat. Die Bourgeoisie, welche
die seit zwei Jahren das Land in beständiger
Aufregung haltende Bewegung nur als ein
Werk Nieuwenhuis' auffaßte, wollte die Zeit

seiner Gefangenschaft benützen, um sein Werk
zu zerstören. In royalistischen Kreisen wollte
man die Bewegung, weil sie auch zum Theil
gegen die Person des Königs gerichtet gewesen
war, treffen. Man beschloß, den 70. Geburts-
tag Wilhelrns III. mit großem Pompe zu feiern.
Alles ward dazu aufgeboten. Die ganze Presse
wurde in Bewegung gesetzt, eine ungeheure
Hetze gegen die Sozialisten geführt und die
niedrigsten Leidenschaften aufgestachelt.

Der Sozialdemokratische Bund nahm den
Kampf auf und verbreitete in 100 000 Exem-
plaren eine Broschüre „König Gorilla", in der
die gröbsten Bestialitäten des Königs enthüllt
wurden. Das schlug dem Faß den Boden aus.
In Amsterdam, Leiden, Utrecht, Rotterdam und
an anderen Orten wurde das Lumpenprole-
tariat—in Amsterdam vornehmlich dieJuden —
gegen uns aufgehetzt und organisirt. Das sozia-
listische Versammlungslokal von Peeming am
Waterlooplein in Amsterdam ward förmlich be-
lagert, bestürmt, eingenommen und geplündert.
Allen bekannten Sozialisten wurden die Fenster

Daniela nieuwenhuis.

eingeworfen; einige Genossen fast §u Tode miß-
handelt. Damals haben die Genossen schivere
Tage erlebt und die schmerzlichsten Erfah-
rungen an der Unbeständigkeit des Volks-
geistes gemacht. Dieselben Massen, die vor
einigen Monaten sozialistische Lieder singend
zu Tausenden die Straßen durchzogen, kühlten
ihr Müthchen jetzt in Mißhandlungen der So-
zialdemokraten. Das Abhalten von Versamm-
lungen war in vier Fünfteln des Landes einfach
unmöglich. Das Volk steinigte uns.

Die Regierung hielt den Sozialismus für
todt und glaubte sich billig den Ruhm der Groß-
muth erwerben zu können, indem sie Nieuwen-
j huis am 31. August aus dem Gefängniß ent-
ließ. Es ist unglaublich, welchen Eindruck diese
! Nachricht in den Kreisen der gedemüthigten
und muthlosen Genossen machte. Am Tage
seiner Freilassung strömte» große Arbeiterzüge
aus allen Vierteln des Haag nach seiner Woh-
nung. Das Fest am folgenden Tage war glän-
zender als je eines gewesen war; und in Amster-
dam schien es am folgenden Sonntage, als ob
es in der großen Stadt nur noch Sozialisten
gäbe.

Gegen den drohenden Triumph- und Pro-
pagandazug, von dem man die Neubelebung des
Muthes und des Selbstvertrauens der Sozialisten
fürchtete, veranstaltete die Reaktion in Rotter-
dam am 7. September einen fürchterlichen Kra-

Das gegen die Sozialisten aufgehetzte
Lumpenproletariat stürmte das Versammlungs-
lokal, in dem sich die Genossen mit Frauen und
Kindern versammelt hatten. Vom ganzen Ge-
bäude blieben nur die nackten Mauern übrig;
Nieuwenhuis selbst entkam der Gefahr nur
deshalb, weil ihm im Gefängniß sein Bart ab-
genommen und er deshalb unkenntlich geworden
war. Den Bürgern, die nicht die holländische
Flagge aushingen, wurden die Fenster ein-
geworsen; die bekannteren Sozialisten mußten
sich verstecken oder flüchten.

In den Jahren von 1879 bis 1887 hat es
noch keine gut organisirte zielbewußte Bewegung
gegeben. Es war die unzufriedene, aber noch
unaufgeklärte Masse, die die Bewegung machte;
die aufgesammelte Unzufriedenheit äußerte sich
in ihr ohne leitendes Prinzip, ohne Plan,
ohne schöpferische Gedanken. Und doch hat
diese Bewegung Erfolge gehabt. Sie hat
die zweite Kammer dazu gezwungen, die Ver-
fassungsrevision und damit die Wahlrevision
in Angriff zu nehmen, und zweitens erreichte
i sie die Einsetzung einer parlamentarischen Kom-
mission, die eine Enquete über die Lage der
arbeitenden Klasse veranstalten sollte. Die En-
quete sollte nach der Absicht der Regierung
beweisen, daß „die Zustände in den Nieder-
landen nicht so schlimm seien"; als aber ihre
Resultate bekannt wurden, ging ein Schrei der
Entrüstung durch das ganze Land.

Inzwischen war die sozialistische Bewegung
in eine neue Phase getreten; der Anarchismus
begann sein Haupt zu erheben und die Gewerk-
vereinsbewegung sich in den Vordergrund zu
drängen. Eine neue Parteiorganisation, die
gänzlich auf den Gewerkschaften ruhte, wurde
geschaffen und viel durch diese Reorganisation
desorganisirt. Andererseits wurden die inner-
lichen Streitigkeiten mit den Anarchisten immer
häufiger und heftiger. Gefördert wurden die
inneren Zwistigkeiten durch die Unthätigkeit
nach außen, da fast im ganzen Lande keine
Propaganda möglich war. Nur im Norden
schritt die Bewegung tüchtig weiter, und als
im Jahre 1888 Nieuwenhuis im Schoterlander
Wahlkreis zum Kammermitglied gewählt wurde,
da kamen wieder bessere Zeiten. Nieuwenhuis'
Kammerreden machten großen Eindruck und
wurden in Tausenden von Exemplaren ver-
breitet. Er selbst fand überall, wo er sprach,
volle Säle.

Die Partei breitete sich so ziemlich über das
ganze Land aus. Im Süden drang sie erobernd
bis Maastricht, Middelburg, Vlissingen, Breda
u. s. w. vor. Im Norden und in Gelderland
gewann sie viele tüchtige Anhänger und in
Friesland und Groningen entstanden fast in
jedem Dorfe von einiger Bedeutung sozial-
demokratische Vereine.

Damit hatte die Bewegung ihren Höhepunkt
erreicht. Vielversprechend hätte die Zukunft
vor ihr gelegen, wäre nicht schon damals im
Inneren die anarchistische Saat üppig in die
Halme geschossen. Domela Nieuwenhuis war
bekanntlich bei einer Neuwahl unterlegen, wo-
durch die Partei ihren einzigen Vertreter im
Parlament verlor. Auf dem Kongreß des Jahres
1893 kam es infolgedessen zu dem Beschluß, sich
nicht mehr an den Wahlen zu betheiligen, und
damit zur Spaltung. Schon auf dem Kongreß
des Vorjahres hatte man in das Programm
den Satz ausgenommen: „Die Partei erstrebt
ihre Ziele mit allen ihr zu Gebote stehenden
Mitteln, gesetzlichen wie ungesetzlichen, fried-
lichen wie gewaltthätigen", und damit dem
Staatsanwalt Gelegenheit zum Einschreiten
gegen den Bund gegeben. Nach einem langen
Prozeß wurde der Sozialdemokratische Bund
im Jahre 1894 als verbotener Verein erklärt.

wall.
 
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