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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 15.1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.8184#0128
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2750

«Spulrabe und ließen die Augen Hannas Be-
wegungen folgen, welche eilig die Kartoffeln
reinigte, dann den einzigen, bereits mit Draht
eingebundenen Topf vom Sims über der Thür
langte, dürres Reisig zusammenbrach und im
Kamin ein prasselndes Feuer anzündete. Wil-
helm starrte, vor sich hinbrütend, zur Erde, und
Alle hatten fast den Eintritt des Gemeinde-
dieners überhört, der bereits auf den alten
Weber zuschritt.

„Guten Abend, Rake!" sagte er, „schlaft
Ihr? ich soll Euch was vom Schulzen sagen!"

Der Weber schlug langsam die Augen auf,
sah den Sprechenden an und schloß sie wieder.

„Rake", begann der Gemeindediener von
Neuem, „Ihr habt seit anderthalb Jahren keine
Steuern bezahlt und der Schulze hat sie immer
vorgeschossen, das wißt Ihr. Weil er aber
nunmehr die Einnehmerstelle abgiebt, so muß
er sein Geld eintreiben und er läßt Euch sagen,
daß, wenn Ihr bis nach dem Feste nicht be-
zahlt hättet, er Euch den Exekuter ins Haus
schicken müßte, und wenn der Euch nichts ab-
pfänden könnte, müßte Euer Häusel veran-
schlagt werden!"

Der Weber blieb regungslos in seiner Stel-
lung; nur ein Zittern, das seinen ganzen Körper
überlief, verrieth, daß er die Worte verstanden.
Hanna, den gefüllten Topf in der Hand, stand,
nachdem der Mann schon eine Weile geendet,
noch immer den Blick starr auf seine Lippen
geheftet, bleich wie die Wand da. Plötzlich
schloß sie die Augen, der Topf entglitt ihrer
Hand und fiel, in Scherben zerbrechend, zur
Erde, schlaff sanken die Arme herab, und ohne
Laut schlug sie, mit dem Kopfe gegen die Mauer
stürzend, hinten über. Der Weber schrak auf,
sank wieder zurück und regte sich nicht, die
Kinder schrien; Wilhelm, der erst bei dem Falle
des Topfes aus seinen düstern Träumereien in
die Höhe gefahren war, warf einen verworrenen,
zweifelnden Blick durch die Stube, mit einem
Aufschrei des Schreckens aber sprang er, zu sich
selbst kommend, nach dem zusammenbrechenden
Mädchen.

„Hannel, Jesus, Hannel! was hast D' denn?"
Er warf sich auf die Knie neben sie, hob den
Oberkörper empor und legte ihn in seine Arme.
„Hannel, mein liebes Hannel, was ist denn ge-
schehen? komm' doch zu Dir!" Er streichelte ihre
Backen, er rief sie in steigender Angst mit allen
Schmeichelnamen, er küßte den bleichen Mund,
als müsse er ihr neues, heißes Leben einflößen;
aber wie die Blume, vom tödtlichen Frost ge-
troffen, ließ sie das Haupt machtlos aus die
Brust herabsinken. — Da traf sein rathlos auf-
schauendes Auge den Gemeindediener, der von
der stürmisch einbrechendon Wirkung seiner
Worte noch immer halb verblüfft, halb er-
schrocken dastand; langsam lehnte Wilhelm den

Körper des Mädchens an die Wand zurück, sein
Blick, unverwandt auf Jenem haftend, glühte
auf, mit einem Ruck sprang er vom Boden und
packte die Schultern des Mannes, daß dieser
von dem unerwarteten Angriff fast in die
Knie brach.

„Jeses, Mann, was wollt Ihr denn?" schrie
der Unglücksbote auf und strebte umsonst, sich
den krampfhaft geschlossenen Fäusten zu ent-
winden. Wilhelm wollte sprechen, die Stimme
versagte ihm. „Nu, seid Ihr denn toll? Ihr
zerbrecht mir die Knochen!" schrie Jener im
vergebenen Widerstande, „laßtlos! der Schulze
will Euch ja 'rauswerfen lassen, ich doch
nicht!"

Wilhelm sah ihm starr ins Gesicht. „Der
Schulze? — 'rauswerfen lassen? —" seine Hände
lösten sich, seine Arme glitten herab, er hatte
mit einem Male Alles begriffen.

„Verdonnerter Kerl!" rief der Gemeinde-
! diener, schnell nach dem Ausgang springend,
j „Du sollst mir's büßen!" Die Thür schlug zu,

\ Wilhelm aber sank, als sei durch die gewaltige
Anstrengung seine ganze Kraft erschöpft, auf
den nebenstehenden Schemel. Erst nach einer
j Weile erhob er sich wieder, umfaßte sein ohn-
mächtiges Mädchen und trug sie nach dem Lager,
dann setzte er sich daneben und sah ihr unver-
wandt in das bleiche, schmerzlich verzogene
Gesicht.

„Stirb, Hannel", sagte er leise, fast mehr
für sich, „wache nicht wieder auf, ich komme
dernach auch bald! Brauchst nicht mehr zu
hungern und zu flennen, brauchst's nicht mit
anzusehen, wie sie uns aus'm Hause schmeißen,
wie wir an den Thüren betteln geh'n, bis
sie uns einmal tobt finden, wie's Vieh aus'm
freien Felde. Stirb, Hannel, ich mach's der-
nach auch nicht mehr lange! — Ach behüt's
Gott!" schluchzte er plötzlich auf, „stirb nicht,
Hannel,'wach' auf, mein gut, lieb Mädel! Du
gehst wieder nach Breslau und kriegst's gut;
ich will den Webstuhl zusammenschlagen und
will hacken und graben; ach mein Hannel, mein
lieb Hannel, stirb doch nicht, ich muß mich ja
gleich derneben legen und auch sterben!" Er
nahm sie wieder in seme Arme, er streichelte j
sie, er küßte sie, und als ein leises Athmen das
rückkehrende Leben verkündete, da unterdrückte
er mühsam die ausbrechende Freude, als könne
eine unvorsichtige Bewegung dieschwacheLebens-
flamme wieder verlöschen, bis sie endlich mit
einem leisen Seufzer die Augenlider auf-
schlug.

Ihr erster Blick fiel in sein treues, bewegtes
Auge; „guter Wilm!" sagte sie und legte noch
matt den Kopf aus seine Schulter. Da schlug
plötzlich die Erinnerung in ihr auf und sie
zuckte empor wie vor dem Bisse einer giftigen
Schlange.

„Sei still, Hannel!" sagte Wilhelm, der sie
errieth, „laß sie nur koinmen und's Häusel weg-
nehmen, was hilft's auch denn, wenn Ihr drin
elendig verderben müßt? Ich Hab' mir was
ausgedacht, da wird's besser, glaub' mir's,
Hannel! Sei jetzt still, morgen will ich Dir's
erzählen!" Aber sie war nicht ruhig; unstät,
mit neu aufgelebter Angst durchlief ihr Auge
die Stube.

Der Weber saß noch immer mit geschlossenen
Augen, als hätte ihn keiner der Vorgänge be-
rührt, hinter dem Webstuhle; in schwachen, regel-
mäßigen Athemzügen hob sich seine Brust —
er war eingeschlafen. Neben dem Kamin, in
welchem noch einzelne kleine Köhlchen glühten,
saßen zusammengekauert die Kinder. Als Hanna
zusammengebrochen, als Wilhelm auf den Ge-
meindediener eingesprungen war, hatten sie sich
erschrocken in den engen Raum, zwischen dem
Webstuhle und der Wand, geflüchtet, als aber

der Schreckensbote das Haus verlassen, war
zuerst Heinrich hervorgekrochen, hatte die zer-
streut umherliegenden Kartoffeln auf ein Häuf-
chen gesammelt und dann einen Theil derselben
in die Kohlen geworfen; bald war auch Liesel
gefolgt und jetzt suchten Beide behutsam mit
einem Reisholz die theils halb, theils völlig ge-
rösteten Kartoffeln hervor, sie gierig verzehrend.
Hieran blieb Hannas Blick hängen, aber bald,
ließ sie in gänzlicher Körper- und Seelenerschö-
pfung den Kopf wieder auf Wilhelms Schulter
sinken und in Kurzem war sie still, unbemerkt
in seinen Armen entschlummert. Behutsam
legte er sie auf das Lager zurück und schlich
auf den Zehen, damit er sie nicht wieder er-
wecke, zum Kamin. Er zündete neues Reisig
darin an, theilte sodann die übriggebliebenen
Kartoffeln in drei gleiche Theile und warf, als
das Feuer niedergebrannt war, zwei derselben
in die Kohlen. Den dritten, für Hanna be-
stimmten, verwahrte er, in sein Tuch gebunden,
sorgfältig auf dem Simse über der Thür. Dann
schritt er zum Webstuhle, nahm das Oellicht
herab und beleuchtete die aufgespannte Arbeit.
Das Leinwandstück war geschlossen und brauchte
nur abgeschnitten zu werden. Leise rüttelte er-
den Weber wach. „Wollt Ihr ein paar Erd-
toffeln?" fragte er. Der Weber sah ihn erst
eine Weile an, als müsse er sich besinnen. „Erd-
toffeln? hast Du noch welche?" sprach er end-
lich und richtete sich auf, „ich denke —!" Er
rieb sich die Stirn und kroch dann langsam
hinter dem Stuhle vor.

„Still, aHannelist krank!" ermahnte Wilhelm.
Der Weber sagte nichts, ließ nur den todten
Blick über das Lager, sowie über die am Kamin
entschlummerten Kinder gleiten, setzte sich an
den Tisch und stützte den Kopf in seine beiden
Hände. Bald war er wieder in eine stumpfe
Apathie versunken, aus der ihn erst Wilhelm,
der die wenigen Kartoffeln nebst einem Häuschen
Salz auf den Tisch legte, weckte. Beide aßen,
ohne ein Wort zu sprechen, der Weber heiß-
hungrig. Beide hatten schon seit dem Morgen
des Tages vorher keinen Bissen zu sich ge-
nommen.

Neben die schlummernde Hanna legte Wilhelm
die kleine Liesel, bog sich noch einmal tief zu
seinem Mädchen herab und sagte dann leise
gute Nacht. Der Weber verriegelte hinter ihm
die Hausthür, weckte den kleinen Heinrich und
suchte mit ihm die harte Ruhestätte unter dem
Dache des Hauses. Wilhelm schritt die Straße
hinab bis zu dem Hause, wo in einer engen
Bodenkammer sein Webstuhl und sein ärm-
liches Lager stand. Hier blieb er einen Augen-
blick stehen, sah in den Nachthimmel hinauf
und drückte dann beide geballte Fäuste vor die
Stirn. „Giebt's denn nur kein Erbarmen und
keine Hilfe!? nicht dort oben im Himmel, nicht
unten auf der Erde? Aus dem Hause werfen!
— und was dann dernach? Das will der König
g'wiß nicht für seine paar Gröschel Steuern,
der braucht sie nicht zum Brote wie wir; aber
der weiß auch nichts von den elendigen Webern,
bis zu dem ist es zu weit — und bis zum Herr-
gott 'nauf zu hoch!" Er fühlte sich im Dunkeln
hinauf zu seiner Kammer, aber der Schlaf floh
ihn, wie schon so manche lange Nacht; Pläne
und Entschlüsse durchkreuzten ihn im tollen
Wirrwarr, bis eine erquickungslose Betäubung
auf die übermüdete Seele sank.

Ueber dem Gebirge lag mit ihren funkelnden
Sternen die stille, heilige Sommernacht, und
der Fremde, der jetzt dort herniedergestiegen
wäre, hätte wohl nicht geahnt, wie viel ver-
zweifelte Menschenherzen der Gottesfrieden
rings umher decke, für wie viele Augen die
Nacht seit Langem schon kein Schlummerlied
mehr singe. (Schluß in nächster Nummer.)

Verantwortlich für die Redaktion Georg Baßler in Stuttgart. — Druck und Verlag von I. H. W. Dietz Nachf. (G. m. b. H) in Stuttgart.
 
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