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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 15.1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.8184#0279
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2901 ••

August Müller nahm den rothen Wahlzettel und trug ihn getreulich zur Urne.

»mul, „steht treu zum Reiche und hat ein warmes
Herz für unser engeres Vaterland; er ist für
Erhaltung der nationalen Wehrkraft, ohne die
Interessen der Industrie und Landwirthschaft
aus dem Auge zu verlieren; er ist für be-
sonnenen Fortschritt und Gegner aller Umsturz-
bestrebungen."

Diesen Ausführungen stimmten nun die
sämmtlichen anwesenden „Schattirungen" be-
geistert zu, und der Kandidat wurde feierlich
gefragt, ob er die von Herrn Professor Weich-
maul soeben entwickelte» Grundsätze als die
seinigen anerkenne?

„Nun natürlich", sagte August Müller, sich
von seinem Sitz erhebend. Er war ein dickes
Männchen mit vergnügt lächelnden Miene» und
anmuthig glänzender Glatze.

Eine Anfrage, ob Herr August Müller auch
für Sozialreformen sei, wurde vom Vorsitzenden
als ungehörig zurückgewiesen; „denn hier ist
keine sozialdemokratische Versammlung", erklärte
er unter allgemeinem Beifall.

Herr August Müller, der Nachtlichterfabri-
kant, wurde einstimmig als Kandidat für Kohl-
stadt-Quasselhausen proklamirt und alle Ord-
nungsmänner aufgefordert, ihre Stimmen auf
ihn zu vereinigen, „damit der Wahlkreis nicht
dem Umsturz zum Opfer falle".

Es ging heiß her am 16. Juni, auch in
Kohlstadt-Quasselhausen. Die Rothen entfalteten
eine ganz überraschende Thätigkeit, um der
Ordnungspartci das Nachtlicht auszublasen.

Auch der Nachtlichterfabrikant August Müller
schlenkerte zum Wahllokal, um sich selbst zu
wählen. Ein eifriger Stimmzettelvertheiler der
Rothen schlängelte sich au Müller heran und
suchte ihm begreiflich zu machen, daß es unschick-

lich sei, wenn der Kandidat sich selber wähle;
am Besten käme er aus der Verlegenheit her-
aus, wenn er einen Stimmzettel für den Gegner
abgebe; das sei nobel und mache seinem Liberalis-
mus Ehre.

August Müller war ein guter Mensch, der
Niemandem etwas abschlagen konnte; deshalb
hatte er ja überhaupt nur die Kandidatur an-
genommen. So nahm er auch den rothen Wahl-
zettel und trug ihn getreulich an die Urne.

Der Erfolg des Tages gehörte den Sozial-
demokraten; sie siegten in der Stadt mit einer
Stimme Majorität; die Arbeitervorstädte ver-
stärkten diese Mehrheit sodann um mehrere
Tausende. Das Volk zog jubelnd durch die
Straßen.

Große Mißstimmung herrschte dagegen im
Lager der vereinigten Liberalen. „Wenn wir
wenigstens die Stadt behauptet hätten", war
der allgemeine Schmerzensruf. „Geradezu
räthselhaft", fügte der Vorsitzende des Wahl-
komites hinzu, „ist das Resultat im ersten Wahl-
bezirk. Es wohnen darin, einschließlich des
Kandidaten selbst, 33 Mitglieder des erweiterten
Wahlkomites, sie haben auch alle gestimmt und
doch haben wir in diesem Bezirk neben 32 patrio-
tischen einen sozialdemokratischen Stimmzettel.

Man schüttelte die Köpfe. August Müller
meinte aber ganz treuherzig: „Na, da ist am
Ende der Rothe daran Schuld, der mir de»
Zettel aufgeschwätzt hat."

„Ihnen, Herr Müller, hat man einen rothen
Zettel aufgeschwätzt und Sie haben ihn an der
Urne abgegeben?"

„Nun natürlich!" bekannte treuherzig der
Nachtlichterfabrikant, „es ist ja unanständig,
wenn Einer sich selbst wählen thut!" m. k.

^7*

❖ Splitter. ❖


Wer da hoch ist, wer da niedrig,
Wer da vornehm, wer gering —
Ein Kapitel schaal und widrig,

Ein erbärmlich fades Ding!

Ob mit Kronen auf den Schädeln,
Ob im Bauer- und Binsenhut —
Die nur sind die wahrhaft Edeln,
Die da wacker sind und gut.

Ach, Bureaukratenthum und Reichthum
Erziehen ein Lügenthum und Schleichthum;
Wollt Wahrheit ihr heute auf Erden vernehmen,
So müßt ihr euch Bettler zu werden bequemen.

Dem oben beliebt es —:
Der unten übt es.

Frau Lüge spricht es —:
Frau Dummheit verficht cs.

Willst du zu Patriarchen stehn,

So mußt du an Verstand
Ein Säugling werden.

Doch willst du mit Monarchen gehn,
So mußt du armer Fant
Ein Heuchling werden.

Den Sklaven zieht's znm Sklaven hin —
Sich selbst genügt ein freier Sinn.
 
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