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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 17.1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.8185#0010
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von Karl Düker.

Ls war eine höchst angenehme Sylvester-
feier gewesen. Der Herr Doktor war ein guter
Gesellschafter und liebte gute Gesellschaft. Die
Sylvesterbowle hatte er ans Wunsch des Haus-
herrn eigenhändig gebraut und dafür, wie
immer, sein Lob von allen Lippen geerntet.
Ls war aber auch ein vorzüglicher Punsch,
ein wahrer Feuertrank. der
die Zungen löste und dem
Geiste höheren Schwung ver-
lieh. wie die Augen der Da-
men leuchteten, wie die Herren
sich gegenseitig an Liebens-
würdigkeit und Witz über-
boten! Und als die Mitter-
nachtsstunde schlug, was war
das für ein Jubeln, Beglück-
wünschen. Gläserklingen ge-
wesen.

Der Herr Doktor hatte eine
Rede gehalten, eine wunder-
volle Rede. Lr hatte das
neue Jahr begrüßt als das
letzte des Jahrhunderts, er
hatte das Jahrhundert ge-
feiert als eine Aera des Fort-
schritts auf allen Gebieten.

Wissenschaft und Technik, so
sagte er. haben gewetteifert.
um die Geister zu befreien,
die Wohlthaten der Kultur
selbst in die ärmste Hütte zu
tragen. Die Humanität, die
allgemeine Menschenliebe fei-
ert ihre Triumphs in der Für-
sorge für die Armen und
Schwachen, Wohlstand und
Gesittung ausbreitend unter
dem Schutze der Freiheit und
des Rechts. Lassen Lie uns
darum, so schloß der Redner,
dem neuen Jahrhundert freu-
dig und hoffnungsvoll ent-
gegenblicken. Die Welt schrei-
tet vorwärts und wenn es jetzt
noch einige vermessene frevler
giebt, die von einem allgemeinen Amsturz der
bestehenden Vrdnung das Heil erwarten, so
wird die Menschheit auch diesen Irrwahn über-
winden. vieles und Herrliches hat sie bereits
erreicht, das irdische Iammerthal hat sie um-
gewandelt in eine Stätte des Segens. Ls wird
einer kleinen Anzahl mißvergnügter Schreier
nicht gelingen, eine Jahrtausende alte Kultur
zu stürzen, ein Ghaos an die Stelle der sozialen
Harmonie zu setzen! In diesem Sinne u. s. w.
u. s. w. Das war eine Rede! Ja. der Herr
Doktor verstand's. Wie der die Welt kannte!
Lin scharfer Denker, ein kühner Philosoph, der
Herr Doktor! Der sah den Dingen auf den
Grund! Lin geistvoller Mann, der Herr
Doktor. . . .

Um vier Uhr Morgens schritt der Herr
Doktor seiner Iunggesellenwohnung zu. Ls
war kalt, der Wind fegte den Schnee durch
die Straßen und der Herr Doktor hüllte sich
fester in seinen Pelz. Dabei hätte er bald

einen kleinen Jungen umgerannt, der mit einem
großen Korbe dahertrottete, die Hände in den
Hosentaschen, vor Kälte schnatternd, daß es
zum Lrbarmen war. Der arme, kleine Kerl.
Lr trug die Wohlthaten der Kultur, die frischen
Semmeln nämlich, in die Häuser. Abends setzte
er Kegel auf bis elf Uhr. Das Kegelspiel
befreit den Geist und stärkt den Körper. Hoffent-
lich wird der Junge später kein mißvergnügter
Schreier werden, der von einer neuen Gesell-
schaftsordnung sein Heil erwartet. Auch das

kleine Mädchen dort nicht, das womöglich noch
erfrorener aussieht als der Junge. Sie hat
es gut. sie kann nach Hause gehen, denn ihre
Veilchen und Maiglöckchen sind vollständig
ausverkauft. V, wie hat sie in den Restau-
rants die Gesittung kennen, den Wohlstand
schätzen gelernt. Aus ihr wird später unter
dem Schutze der Freiheit und des Rechts etwas
Rechtes werden. Wie sich der Vater freuen
wird, wenn seine Kinder Geld ins Hans bringen.
Ls langt doch immerhin schon zu einem Kasten
Kohlen, und eine warme Stube gehört zu dem
Herrlichsten, was der Mensch erreicht hat. Der
Vater ist Handlanger; was er verdient, langt
von der Hand in den Mund. Seit einigen
Wochen freilich liegt er zu Hause, dem neuen
Jahre freudig und hoffnungsvoll entgegen-
blickend. da fein gebrochenes Bein sich langsam
bessert, Lr war nämlich beim Zusammensturz
eines Baugerüstes verunglückt, an dessen Kon-
struktion Wissenschaft und Technik gewetteifert

hatten, um es so billig als möglich herzustellen.
Welche Triumphe feiert an dem Manne die
allgemeine Menschenliebe! von der Kranken-
kasse will ich gar nicht reden, denn die hat er
selbst bezahlt, und auf die Unfallversicherung
muß er noch warten, weil die erst nach drei-
zehn Wochen ihre Fürsorge beginnt. Aber vom
Armenamt bekommt er wöchentlich neun Pfund
Brot und zwei Mark baares Geld, was er
erst zu ersetzen braucht, wenn er wieder ar-
beiten kann, vom Verein für innere Mission
war eine sehr fromme, sehr
respektable und sehr alte Dame
dagewesen, die ihm Lektüre
brachte, z. B. die herrliche
Schrift: „Äuellwasser für

durstige Lrdenpilger". und die
ihm eine reiche Spende an alten
Kleidungsstücken, sowie wö-
chentlich eine kräftige Semmel-
suppe versprochen hat, wenn
er nur aus dem verein „vor-
wärts" austreten und sich da-
für dem verein „Lbenezer" an-
schließen wird. Dazu verdient
die Mutter als Aufwartefrau
manchen schönen Groschen, na-
türlich nur bei besseren Leuten,
denen ein Thaler nicht zu viel
ist. wenn sie dafür die ganze
Woche hindurch Jemand vom
Müßiggang retten können.

V, welch eine Stätte des
Segens ist doch diese Welt mit
ihrer Jahrtausende alten Kul-
tur! Welch eine Aera des
Fortschritts auf allen Gebieten!
Zum Beispiel dort das Asyl
für Vbdachlose. Wie sie Heraus-
strömen. die Glücklichen, die
wieder einmal eine Nacht hin-
durch die Segnungen der Zivili-
sation genießen durften und
jetzt in der Winterkälte da-
rüber Nachdenken können, wie
vieles und Herrliches die
Menschheit bereits erreicht hat.
V. welche Blüthe der Humani-
tät! Der Kerl dort amBrücken-
geländer schneidet recht sonder-
bare Grimassen. Lr schaut unverwandt hinab
in den Strom. Das Wasser ist noch eisfrei und
er hat seit zwei Tagen nichts gegessen. Was
murmelt er denn fortwährend? „Das Ghaos
an Stelle der sozialen Harmonie, das Ghaos.
das Ghaos!" Lr wird doch nicht zu jenen
vermessenen Frevlern gehören . . .?

Prosit Neujahr. Herr Doktor!

b Äedankenbalken. «=>

„Das habe Ich wieder einmal gut gemacht", sagte
ein Fürst, als ihm sein Volk eine Schlacht gewonnen hatte.

Ls ist nicht wahr, daß stetes Reisen bildet. Schwachen
Röpsen verwirrt es völlig den verstand.

Freilich hat die Menschheit Ltwas vor allen Chieren
voraus. Lie hat Lockspitzel. Die giebt es im Thierreich
nicht. *

Die Rachkommen von Raubgrasen, Ltrauchdieben
und Ruschrittern sind noch allemal die strengsten Hüter
der Gesetze geworden.
 
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