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Herr! Es ist zu schrecklich! Unten ist ein
Mord vollführt!"
„Ein Mord?"
„Ja. Der Tischler, der im Keller wohnt, hat
eine Tochter. Das Mädchen, vielleicht erst
fünfzehn Jahre alt, ist bereits eine schreckliche
Säuferin. Sie stahl dem Vater das Geld zun:
Schnaps, alle Wichten davon, er prügelte sie
oft, allein es half alles nichts. Heute war
wieder eine solche Prügelszene, bei der sich die
Tischlersfra» der Tochter annahm. In seiner
furchtbaren Wuth ergriff der Mann die Hacke
und versetzte seinem Weibe einen Schlag auf
den Kopf, daß sie tobt zusammenstürzte. Man
hat ihn schon sestgenommen. Gehen Sie nicht
hinunter, gnädiger Herr, es ist zu schrecklich
und viel zusammengelaufenes Gesindel dort.
Das war gerade heute noch nöthig, nach dem
Jubiläum des gnädigen Herrn. . ."
Der alte Dichter kehrte in sein Zimmer
zurück.
„Soll ich den gnädigen Herrn entkleiden?"
„Nein, Du kannst gehen. Ich will allein
bleiben."
Der Lakai ging.
Sich wie früher im Fauteuil niederlassend,
begann er wieder ins Kaminfeuer zu starren.
Ein halbes Jahrhundert Arbeit. . . Reich-
thum . . . Ehren . . . Würde ... Er erinnerte
sich an die Worte eines Redners, der zu seiner
Ehre gesprochen hatte: Der ehrwürdige Jubilar
habe ein halbes Jahrhundert lang mit größter
Aufopferung und Selbstverleugnung für die
Menschheit gearbeitet. . .
Noch vor zwei Stunden haben diese Worte
die Eitelkeit und den Ehrgeiz des Greises an-
genehm berührt, jetzt aber, wenn er sich ihrer
erinnerte, schrie er beinahe:
„Das ist nicht wahr! Das ist eine Lüge!
Ich habe nur für mich gearbeitet, zum ei-
genen Nutzen und zum Vergnügen jener hand-
voll Leute, welche die Privilegirten genannt
werden . . .
„Verliebte Studenten haben meine lyrischen
Gedichte auswendig gelernt, hysterische Weiber
weinten bei der Lektüre meiner Romane und
wurden bei der Aufsiihrung meiner Dramen
in den Logen ohnmächtig; einige gebildete
Dilettanten ergötzten sich an meinen Epopöes
und dafür hat man mein Jubiläum ge-
Kreise, in denen er verkehrte, nicht vor den
Kopf zu stoßen ... Er war ein Apostel, richtig,
aber seines eigenen Vortheils. . .
Während unten in den Kellerräumen das
Elend die Menschen umklamnierte und dessen un-
zertrennlicher Genosse, das Verbrechen, die wil-
desten Orgien aufführte: skandirte er ruhig seine
Alexandriner in seinem luxuriös ausgestatteten
Kabinet im ersten Stock, rauchte er feine Zi-
garren in einem eleganten Salon, oder wartete
in seiner Loge auf den Applaus des Theater-
publikums. So ist es mit seiner Apostelschaft be-
schaffen, das sind seine Rechte auf diesen Titel.
,... — ....... muii ^yuuuauJii ne
feiert. . . Und das nannte man eine fünfzig
jährige Arbeit für's öffentliche Wohl mit Auf-
opferung und Selbstverleugnung . . . Wahrlich
mit Unrecht! . . . Die Natur hat mir ein uw
gewöhnliches Talent, vielleicht gar Genie
liehen; Gott weiß, was ich hätte zu Stande
bringen können — und was habe ich zu Stande
. ..yj—/ v — vvu uituexaji
einigen tausend Menschen erschüttert. Und die
Millionen, die vielen Millionen Menschen?
Diese hatten von meiner Arbeit, oder richtiger
von den Gaben, mit denen die Natur mich
ausgestattet, nichts. Mit der Leuchte meines
Hirns, mit meinen Gedanken und meinen
Worten bin ich nie unters Volk gegangen.
Man nannte mich den „Apostel des Geistes"
— fürwahr mit Unrecht! Wer ein Apostel des
Geistes ist, der bringt dem Volke den Christus,
den Erlöser!"
Unten, unter seinen Füßen ging was vor,
aller ripvitk+rt »2 * r '
anblicke. . . Er trug doch nichts auf seinen
Schultern — und doch hat er Memandem seine
Hand hilfreich gereicht; über seinem Haupte
schwebte kein Damoklesschwert und er dachte
nur an sich . . .
Und sein ganzes Leben, jenes halbe Jahr-
hundert Arbeit und Triumphe, erschien ihm so
öde, so schal, so vergeudet. . .
Und war erst eine solch schreckliche That
nothwendig, um ihn aus diesem egoistischen
Schlafe zu wecken? . . . Und warum ist er so
spät — zu spät erwacht? . . .
Er empfand einen Abscheu für seine eigene
Natur, für seine eigene Seele. Seine ganze
Philosophie, die auf dem Rechte der Noth-
wendigkeit, welche Schuld und Verdienst aus-
schloß, beruhte, stürzte zusammen — er fühlte
sich schuldig.
Er verspürte Lust, alle Kränze, Gedenk-
bücher und kostbaren Geschenke zum Fenster
hinauszuwerfen, er verdrängte aus seinem
Gedächtnis; die Erinnerung an jene Personen,
die am Tage seines fünfzigjährigen Dichter-
jubiläums um ihn versammelt waren, um ihn
mit Ehren und Huldigungen zu überhäufen.
„Warum", wiederholte er, „warum sitzt die
Familie des Tischlers nicht an meinem eigenen
Tische, um das Buch zu lesen, das ich für sie
geschrieben habe. . ."
Er fühlte sich schuldig und sein bisheriges
Leben erschien ihm schal und nutzlos... Es
war aber zu spät, ein neues zu beginnen. . .
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—v.., uuici innen y-upen grng was vor,
er aber geruhte es nicht zu beachten: dazu war
er zu vornehm, ;u sehr mit Ehren überhäuft,
M groß. Ja, so ist es, er hat für diejenigen
geschaffen, welche ihn mit Champagner be-
wirthcten und ihm einen Ehrenplatz an-
wiesen; er schrieb vor Allem für große Herren
—w i^jucu vor Auem für groste Herren
und reiche Emporkömmlinge. Ja, so ist es,
manchmal hat er Gedanken, die ihm einfielen,
verscheucht, Blätter, die sich von selbst be-
schrieben, in den Papierkorb geworfen, um die
. Einst, in seiner Jugend, hatte sein Freund,
ein längst verstorbener Maler, einen Christus
skizzirt, der, auf seinem Golgathagange unter
der Bürde des Kreuzes zusammenknickend, in
sich noch so viel Kraft fand, um einem Greise
aus der Menge, der, von einem römischen
Soldaten gestoßen, niedersank, die freie Hand
zu reichen. Von diesem Bilde wurde seinerzeit
viel gesprochen. Der Maler bestrebte sich,
Christus den Ausdruck eines ungewöhnlichen
Selbstvergessens, eines ungewöhnlichen Mit-
gefühls zu verleihen. Eine seltsame Assoziation
der Eindrücke — dieses Bild, an welches der
Dichter jahrelang nicht gedacht hatte, stand
jetzt lebhaft vor seinen Augen.
Er verhüllte das Gesicht mit den Händen
und senkte das Haupt auf die Brust. Es schien
ihm, daß dieser Christus mit seiner gegen den
niedergeworfenen Greis ausgestreckten Hand
ihn aus dem ehemaligen Bilde vorwurfsvoll
Zweierlei hat immer die menschliche Ge-
sellschaft: die Mode der Zeit und den Moder
der Zeiten, die wache Gier der Gegenwart
und den verschlafenen Glauben der Vergangen-
heit, die Silberschalen des Taumels und die
goldenen Kelche der Gewissensbetäubung, die
Dirne und den Priester — sie hat eigentlich
immer nur Eines: den Zwiespalt.
Was hält die Mitte zwischen den wehen-
den Federbüschen der Ueberzeugungsfreudigkeit
und den nickenden Schlafmützen der Gleich-
giltigkeit? Derblanke, glatte Hut des Philisters!
Was die Köpfe betrifft, wohnt in der
Mitte nicht das Maß, sondern die Mittel-
mäßigkeit. *
Moloch Krieg verschlingt unsere Söhne
regimenterweise. Der Kanibale frißt in der
Regel nur einzelne Opfer. Das ist der Unter-
schied zwischen Zivilisation und Barbarei.
Der Soldat von heute ist in erster Linie
Polizist, Polizist im Dienste der Satten gegen
die Hungrigen. Schafft den Hunger der
Hungrigen ab, ihr Satten — und ihr braucht
keine Polizisten mehr!
Ein
Das beste Symbol des Krieges?
Metzger mit dem Heiligenschein.
Kriege sind Mehelsuppen, ans denen die
Könige fischen. *
Ein Geschichtsbuch, das die nackte Wahrheit
spräche, würde von allen Unterrichtsanstalten
verbannt werden.
Herr! Es ist zu schrecklich! Unten ist ein
Mord vollführt!"
„Ein Mord?"
„Ja. Der Tischler, der im Keller wohnt, hat
eine Tochter. Das Mädchen, vielleicht erst
fünfzehn Jahre alt, ist bereits eine schreckliche
Säuferin. Sie stahl dem Vater das Geld zun:
Schnaps, alle Wichten davon, er prügelte sie
oft, allein es half alles nichts. Heute war
wieder eine solche Prügelszene, bei der sich die
Tischlersfra» der Tochter annahm. In seiner
furchtbaren Wuth ergriff der Mann die Hacke
und versetzte seinem Weibe einen Schlag auf
den Kopf, daß sie tobt zusammenstürzte. Man
hat ihn schon sestgenommen. Gehen Sie nicht
hinunter, gnädiger Herr, es ist zu schrecklich
und viel zusammengelaufenes Gesindel dort.
Das war gerade heute noch nöthig, nach dem
Jubiläum des gnädigen Herrn. . ."
Der alte Dichter kehrte in sein Zimmer
zurück.
„Soll ich den gnädigen Herrn entkleiden?"
„Nein, Du kannst gehen. Ich will allein
bleiben."
Der Lakai ging.
Sich wie früher im Fauteuil niederlassend,
begann er wieder ins Kaminfeuer zu starren.
Ein halbes Jahrhundert Arbeit. . . Reich-
thum . . . Ehren . . . Würde ... Er erinnerte
sich an die Worte eines Redners, der zu seiner
Ehre gesprochen hatte: Der ehrwürdige Jubilar
habe ein halbes Jahrhundert lang mit größter
Aufopferung und Selbstverleugnung für die
Menschheit gearbeitet. . .
Noch vor zwei Stunden haben diese Worte
die Eitelkeit und den Ehrgeiz des Greises an-
genehm berührt, jetzt aber, wenn er sich ihrer
erinnerte, schrie er beinahe:
„Das ist nicht wahr! Das ist eine Lüge!
Ich habe nur für mich gearbeitet, zum ei-
genen Nutzen und zum Vergnügen jener hand-
voll Leute, welche die Privilegirten genannt
werden . . .
„Verliebte Studenten haben meine lyrischen
Gedichte auswendig gelernt, hysterische Weiber
weinten bei der Lektüre meiner Romane und
wurden bei der Aufsiihrung meiner Dramen
in den Logen ohnmächtig; einige gebildete
Dilettanten ergötzten sich an meinen Epopöes
und dafür hat man mein Jubiläum ge-
Kreise, in denen er verkehrte, nicht vor den
Kopf zu stoßen ... Er war ein Apostel, richtig,
aber seines eigenen Vortheils. . .
Während unten in den Kellerräumen das
Elend die Menschen umklamnierte und dessen un-
zertrennlicher Genosse, das Verbrechen, die wil-
desten Orgien aufführte: skandirte er ruhig seine
Alexandriner in seinem luxuriös ausgestatteten
Kabinet im ersten Stock, rauchte er feine Zi-
garren in einem eleganten Salon, oder wartete
in seiner Loge auf den Applaus des Theater-
publikums. So ist es mit seiner Apostelschaft be-
schaffen, das sind seine Rechte auf diesen Titel.
,... — ....... muii ^yuuuauJii ne
feiert. . . Und das nannte man eine fünfzig
jährige Arbeit für's öffentliche Wohl mit Auf-
opferung und Selbstverleugnung . . . Wahrlich
mit Unrecht! . . . Die Natur hat mir ein uw
gewöhnliches Talent, vielleicht gar Genie
liehen; Gott weiß, was ich hätte zu Stande
bringen können — und was habe ich zu Stande
. ..yj—/ v — vvu uituexaji
einigen tausend Menschen erschüttert. Und die
Millionen, die vielen Millionen Menschen?
Diese hatten von meiner Arbeit, oder richtiger
von den Gaben, mit denen die Natur mich
ausgestattet, nichts. Mit der Leuchte meines
Hirns, mit meinen Gedanken und meinen
Worten bin ich nie unters Volk gegangen.
Man nannte mich den „Apostel des Geistes"
— fürwahr mit Unrecht! Wer ein Apostel des
Geistes ist, der bringt dem Volke den Christus,
den Erlöser!"
Unten, unter seinen Füßen ging was vor,
aller ripvitk+rt »2 * r '
anblicke. . . Er trug doch nichts auf seinen
Schultern — und doch hat er Memandem seine
Hand hilfreich gereicht; über seinem Haupte
schwebte kein Damoklesschwert und er dachte
nur an sich . . .
Und sein ganzes Leben, jenes halbe Jahr-
hundert Arbeit und Triumphe, erschien ihm so
öde, so schal, so vergeudet. . .
Und war erst eine solch schreckliche That
nothwendig, um ihn aus diesem egoistischen
Schlafe zu wecken? . . . Und warum ist er so
spät — zu spät erwacht? . . .
Er empfand einen Abscheu für seine eigene
Natur, für seine eigene Seele. Seine ganze
Philosophie, die auf dem Rechte der Noth-
wendigkeit, welche Schuld und Verdienst aus-
schloß, beruhte, stürzte zusammen — er fühlte
sich schuldig.
Er verspürte Lust, alle Kränze, Gedenk-
bücher und kostbaren Geschenke zum Fenster
hinauszuwerfen, er verdrängte aus seinem
Gedächtnis; die Erinnerung an jene Personen,
die am Tage seines fünfzigjährigen Dichter-
jubiläums um ihn versammelt waren, um ihn
mit Ehren und Huldigungen zu überhäufen.
„Warum", wiederholte er, „warum sitzt die
Familie des Tischlers nicht an meinem eigenen
Tische, um das Buch zu lesen, das ich für sie
geschrieben habe. . ."
Er fühlte sich schuldig und sein bisheriges
Leben erschien ihm schal und nutzlos... Es
war aber zu spät, ein neues zu beginnen. . .
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—v.., uuici innen y-upen grng was vor,
er aber geruhte es nicht zu beachten: dazu war
er zu vornehm, ;u sehr mit Ehren überhäuft,
M groß. Ja, so ist es, er hat für diejenigen
geschaffen, welche ihn mit Champagner be-
wirthcten und ihm einen Ehrenplatz an-
wiesen; er schrieb vor Allem für große Herren
—w i^jucu vor Auem für groste Herren
und reiche Emporkömmlinge. Ja, so ist es,
manchmal hat er Gedanken, die ihm einfielen,
verscheucht, Blätter, die sich von selbst be-
schrieben, in den Papierkorb geworfen, um die
. Einst, in seiner Jugend, hatte sein Freund,
ein längst verstorbener Maler, einen Christus
skizzirt, der, auf seinem Golgathagange unter
der Bürde des Kreuzes zusammenknickend, in
sich noch so viel Kraft fand, um einem Greise
aus der Menge, der, von einem römischen
Soldaten gestoßen, niedersank, die freie Hand
zu reichen. Von diesem Bilde wurde seinerzeit
viel gesprochen. Der Maler bestrebte sich,
Christus den Ausdruck eines ungewöhnlichen
Selbstvergessens, eines ungewöhnlichen Mit-
gefühls zu verleihen. Eine seltsame Assoziation
der Eindrücke — dieses Bild, an welches der
Dichter jahrelang nicht gedacht hatte, stand
jetzt lebhaft vor seinen Augen.
Er verhüllte das Gesicht mit den Händen
und senkte das Haupt auf die Brust. Es schien
ihm, daß dieser Christus mit seiner gegen den
niedergeworfenen Greis ausgestreckten Hand
ihn aus dem ehemaligen Bilde vorwurfsvoll
Zweierlei hat immer die menschliche Ge-
sellschaft: die Mode der Zeit und den Moder
der Zeiten, die wache Gier der Gegenwart
und den verschlafenen Glauben der Vergangen-
heit, die Silberschalen des Taumels und die
goldenen Kelche der Gewissensbetäubung, die
Dirne und den Priester — sie hat eigentlich
immer nur Eines: den Zwiespalt.
Was hält die Mitte zwischen den wehen-
den Federbüschen der Ueberzeugungsfreudigkeit
und den nickenden Schlafmützen der Gleich-
giltigkeit? Derblanke, glatte Hut des Philisters!
Was die Köpfe betrifft, wohnt in der
Mitte nicht das Maß, sondern die Mittel-
mäßigkeit. *
Moloch Krieg verschlingt unsere Söhne
regimenterweise. Der Kanibale frißt in der
Regel nur einzelne Opfer. Das ist der Unter-
schied zwischen Zivilisation und Barbarei.
Der Soldat von heute ist in erster Linie
Polizist, Polizist im Dienste der Satten gegen
die Hungrigen. Schafft den Hunger der
Hungrigen ab, ihr Satten — und ihr braucht
keine Polizisten mehr!
Ein
Das beste Symbol des Krieges?
Metzger mit dem Heiligenschein.
Kriege sind Mehelsuppen, ans denen die
Könige fischen. *
Ein Geschichtsbuch, das die nackte Wahrheit
spräche, würde von allen Unterrichtsanstalten
verbannt werden.