Der Ärste Mai,
der zweite der beiden Weltfesttage des Prole-
tariats, hat mit dem anderen, dem Acht-
zehnten März, das gemein, daß er von
Proletariats Gnaden ist; aber er ist nicht wie
lener eine Schöpfung der neueren Geschichte
unt Wurzeln, von denen die älteste in das
>;ahr 1848 zuriickreicht, sondern eine Schöpfung
der ewigen Natur mit Wurzeln, zurückreichend
m die Zeiten der aufdämmernden Kultur vor
Tausenden und Abertausenden von Jahren. Und
während der Achtzehnte März nach der Er-
hebung und Niederlage der Pariser Kommune
"hne irgend welche Vereinbarung aus dem
Herzen der zum Klassenbewußtsein erwachten
Arbeiter aller Länder durch den unwidersteh-
lrchen Drang des Gefühls erzeugt wurde, ist
der Erste Mai durch einen förmlichen Beschluß
des ersten, von der organisirten Arbeiterschaft
"t Länder ab gehaltenen Proletnrier-
P-rlaments zum Weltfesttag der Arbeit
unr der Arbeiter erhoben worden.
Es war im Jahre 1889 — im Jubeljahr
der großen französischen Revolution — hundert
"dhre nach Erstürmung der Bastille.
Damals, in der Revolution von 1789, brach
w i Bürgerthum, an der Spitze des „dritten
«tandes«,diemittelalterliche Herrschaft der zwei
erstm Stände: der Geistlichkeit und des Adels.
Es verkündete die Freiheit und Gleichheit,
zerstörte das ständische Wesen und die sonstigen,
de» bürgerlichen Fortschritt hemmenden Ucber-
reste des Feudalismus. Allein an Stelle der
mittelalterlichen Stand es unterschiede trat der
Klassenunterschied und Klassengegensatz.
Aus dem Schoße des siegreichen dritten Standes
wuchsen, die mittelalterlichen Stände in sich
aufsaugend, zwei Klassen mit verschiedenen,
widerstreitenden Interessen hervor: die Bour-
geoisie und das Proletariat. Die Gleich-
heit, welche der bürgerlichen Revolution als
Ideal vorgeschwebt hatte, verwirklichte sich
nicht; ja die gesellschaftliche Ungleichheit nahm
noch zu, obschon die politische Gleichheit
gesetzlich eingeführt war. Mit der Gleichheit
entschwand allmälig auch die Freiheit, welche
nur bei gesellschaftlicher und wirthschaftlicher
Gleichheit denkbar ist. Die verschiedenen und
widerstreitenden Interessen riefen Reibungen
und Kämpfe hervor. Und der Klassenkampf
hatte zur nothwendigen Folge die Klassen-
diktatur. Seit der Junischlacht des Jahres
1848 übt die Bourgeoisie thatsächlich die Dik-
tatur — rücksichtslos, gewaltsam, wie nur je
die Diktatur im alten Römerreich ausgeübt
ward. Ja, die Aechtung der Besiegten und der
Schwächeren ist von den Diktatoren des Alter-
thums: den Marius, Sulla und Anderen,
nie in so ausgedehntem Maße und so methodisch
betrieben worden, wie nach der Junischlacht
und nach der Kommune.
Achtzehn Jahre nach der blutigen Mo
woche, die 1871 den Todeskampf der Kommm
sah — achtzehn Jahre und zwei Monate — i
Juli 1889 versammelte sich das Erste Inte
nationale Arbeiterparlament, gewäh
von organisirten Arbeitern aller Länder,
Paris, der Mutterstadt der Revolution. Wo
hatte die Internationale Arbeiterassi
ziation, dieser große, prophetische Umriß d
-um wahren Jacob" ltr. 359», 190
(Matfest-Rnnnner.)
künftigen Staats- und Gesellschaftsordnung,
schon vor 1870 vier Internationale Kongresse
gehabt, aber im Wesentlichen waren das nur
Kongresse von Pionieren, die noch keine
Organisationen hinter sich hatten. Im
Jahre 1889 war es anders. Der verbreche-
rische Bruderkrieg zwischen Deutschland und
Frankreich und die Katastrophe der Kommune
hatten der sozialistischen Bewegung einen mäch-
tigen Anstoß gegeben. Die Geister hatten sich
geklärt, die Jugendkrankheit der anarchisti-
schen Lehre und Phrase, dieses Erbstücks
der bürgerlichen Revolution, war über-
wunden. Sektenbildung hatte der Partei-
bildung Platz gemacht. In allen Kultur-
ländern hatte das klassenbewußte Proletariat
erfaßt, daß die Arbeiter sich die politische
Gewalt erkämpfen müssen, um die ökonomische
Befreiung des Proletariats zu erwirken und
der Klassenausbeutung und Klassenherrschaft
durch sozialistische Organisation der Gesell-
schaft die Existenzmöglichkeit zu entziehen.
Das Arbeiterparlament, das 1889 im hun-
dertsten Geburtsjahr der bürgerlichen Revo-
lution zusammenkam, hatte vor Augen den
Bastillensturm mit den sich ihm anschließenden
Großthaten der Jahre 1792, 1793, 1794 —
es hatte vor Augen die Junischlacht und die
Kommune. Es überschaute die Entwicklung
des Bürgerthums zur Bourgeoisie, das Werde»
und Wachsen des Kapitalismus, das Ver-
blassen des bürgerlichen Ideals der Freiheit
und Gleichheit — die blutigen Reaktionsorgien,
in die der Kapitalismus die Söhne und Enkel
der bürgerlichen Revolutionshelden und Revo-
lutionstitanen gestürzt hatte. Das Bürgerthum
hatte das Reich der Freiheit und Gleichheit
nicht zu begründen vermocht: Aufgabe des
Proletariats war es, das bürgerliche
Ideal durch den Kapitalismus zu ver-
wirklichen. Die Bourgeoisie war durch den
Kapitalismus reaktionär und kulturfeindlich
geworden — das internationale sozialistische
Proletariat trug die Zukunft der Kultur und
der Menschheit.
Diese Erkenntniß beherrschte das Pariser
Arbeiterparlament. Und um dem gemeinsamen
Denken und Fühlen als geistiges Band einen
gemeinsamen Festtag zu geben, an welchem
dieses Denken und Fühlen gleichmäßig und
gleichzeitig in allen Ländern der Erde zu feier-
lichem Ausdruck gelangen und jedem Sozia-
listen der Welt die Zusammengehörigkeit mit
seinen Brüdern und Schwestern allüberall zu
lebendigem Bewußtsein kommen soll, schuf das
Arbeiterparlament von Paris den Ersten Mai.
Der Gedanke lag in der Luft. Ausgesprochen
wurde er zuerst von einem französischen Ge-
nossen, dem voriges Jahr als Maire (Bürger-
meister) von Montlu?on verstorbenen D o r m o y,
der schon einige Monate früher auf dem Kongreß
der französischen Arbeiterpartei die Festsetzung
eines Internationalen Weltfest- und Feiertags
angeregt hatte. Mit stürmischer Begeisterung
nahm der Pariser Kongreß einstimmig den Vor-
schlag an, und einstimmig wurde beschlossen, daß
dieser Tag der Erste Mai sein solle. Es war
das Alles so selbstverständlich, daß keine Be-
rathung nöthig war. Der Neue Bund des
sozialistischen Proletariats bedurfte eines
Bundessestes, und der Erste Mai war von
der Natur für dieses Fest vorausbestimmt.
Von der Natur und von der Geschichte.
Seit unvordenklichen Zeiten, Jahrtausende
vor der christlichen Zeitrechnung, war der Erste
Mai ein Naturfest der Völker — namentlich
in den gemäßigten Zonen. Griechen, Römer,
Germanen feierten an diesem Tage den Tri-
umph der Sonne und des Frühlings über die
Nacht und die Eisfesseln des Winters. Was
die Wintersonnenwende verheißen hatte,
was die Frühlings-Tag-und Nachtgleiche
noch nicht voll erfüllte — das war am Ersten
Mai Wahrheit. Die Sonne ist Herrin ge-
worden über Winter und Nacht; die Natur
hat ihren Brautschmuck angezogen — Jubel
erfüllt die Menschen und äußert sich in Festlich-
keiten und sonstigen Kundgebungen der Freude.
Unter allen Völkern waren es in erster Linie
unsere Voreltern, die Germanen, welche das
Maifest mit heiterem Frohsinn und inbrünstiger
Andacht feierten, denn in der nordischen Hei-
math empfanden sie mehr als die Bewohner
des milden Südens das Ungemach, die Härten
und Tücken des Winters und folglich auch die
Wonnen und Wohlthaten des siegenden Früh-
lings. Sie zogen um Mitternacht in die Wälder
und auf die Bergeshöhen, erwarteten unter
Tanz und Spiel das Aufsteigen des Tages-
gestirns, dessen erste Strahlen mit Jauchzen
und Jubelsang begrüßt wurden. Das zur Staats-
religion gewordene Christenthum verbot das
Maifest wie die anderen „heidnischen" Natur-
feste unserer Altvordern und brandmarkte sie
als Teufelswerk. Das Volk aber hielt fest an
seinem Maifest, nur daß es, wie die Sozia-
listen unter dem Bismarckschen Aechtungsgesetz,
heimlich that, was öffentlich zu thun ihm
verboten war. Die christliche Priesterschaft
rächte sich, indem sie die Theilnehmer an den
Maifeiern für Hexen und Teufel ausgab.
So entstand das Märchen von dem Auszug
der Hexen in der Nacht des Ersten Mai —
und noch heute glaubt in vielen Theilen Deutsch-
lands das Volk an die Walpurgisnacht ans
dem Blocksberg im Harz, wo, dank dem
zähen Charakter des niedersächsischen Stammes,
die heidnische Feier des Ersten Mai den Ver-
folgungen am längsten getrotzt hat. Ganz unter-
drücken hat sich die Maifeier nicht lassen. In
den meisten Gegenden Deutschlands, nament-
lich wo die germanische Rasse sich rein erhalten
hat, wird in allerhand Formen und Gebräuchen
der Erste Mai noch heute gefeiert — meist
durch Maibäume und Maireiser. Aehnliches gilt
auch von England, Frankreich und anderen
Ländern der alten Welt, sowie von den Ver-
einigten Staaten Nordamerikas. Die inter-
nationale Sozialdemokratie ahmte mithin, als
sie den Ersten Mai zum Weltfesttag der Ar-
beit wählte, das Beispiel der christlichen Kirche
nach, die ihre Feste auf altheidnische gründete.
Nur daß die Sozialdemokratie das Vorgefun-
dene nicht in den Staub zog und besudelte,
sondern läuterte und erhöhte. Aus der Feier
des siegenden Frühlings und der auferstehenden
Natur wurde die Feier des siegend en Sozia-
lismus, der auferstehenden Mensch-
heit. Die sozialistische Bewegung, die so oft
mit den Anfängen des Christenthums verglichen
worden ist und die auch, trotz der Verschieden-
heit des Wesens und der Ziele, manchen Ver-
der zweite der beiden Weltfesttage des Prole-
tariats, hat mit dem anderen, dem Acht-
zehnten März, das gemein, daß er von
Proletariats Gnaden ist; aber er ist nicht wie
lener eine Schöpfung der neueren Geschichte
unt Wurzeln, von denen die älteste in das
>;ahr 1848 zuriickreicht, sondern eine Schöpfung
der ewigen Natur mit Wurzeln, zurückreichend
m die Zeiten der aufdämmernden Kultur vor
Tausenden und Abertausenden von Jahren. Und
während der Achtzehnte März nach der Er-
hebung und Niederlage der Pariser Kommune
"hne irgend welche Vereinbarung aus dem
Herzen der zum Klassenbewußtsein erwachten
Arbeiter aller Länder durch den unwidersteh-
lrchen Drang des Gefühls erzeugt wurde, ist
der Erste Mai durch einen förmlichen Beschluß
des ersten, von der organisirten Arbeiterschaft
"t Länder ab gehaltenen Proletnrier-
P-rlaments zum Weltfesttag der Arbeit
unr der Arbeiter erhoben worden.
Es war im Jahre 1889 — im Jubeljahr
der großen französischen Revolution — hundert
"dhre nach Erstürmung der Bastille.
Damals, in der Revolution von 1789, brach
w i Bürgerthum, an der Spitze des „dritten
«tandes«,diemittelalterliche Herrschaft der zwei
erstm Stände: der Geistlichkeit und des Adels.
Es verkündete die Freiheit und Gleichheit,
zerstörte das ständische Wesen und die sonstigen,
de» bürgerlichen Fortschritt hemmenden Ucber-
reste des Feudalismus. Allein an Stelle der
mittelalterlichen Stand es unterschiede trat der
Klassenunterschied und Klassengegensatz.
Aus dem Schoße des siegreichen dritten Standes
wuchsen, die mittelalterlichen Stände in sich
aufsaugend, zwei Klassen mit verschiedenen,
widerstreitenden Interessen hervor: die Bour-
geoisie und das Proletariat. Die Gleich-
heit, welche der bürgerlichen Revolution als
Ideal vorgeschwebt hatte, verwirklichte sich
nicht; ja die gesellschaftliche Ungleichheit nahm
noch zu, obschon die politische Gleichheit
gesetzlich eingeführt war. Mit der Gleichheit
entschwand allmälig auch die Freiheit, welche
nur bei gesellschaftlicher und wirthschaftlicher
Gleichheit denkbar ist. Die verschiedenen und
widerstreitenden Interessen riefen Reibungen
und Kämpfe hervor. Und der Klassenkampf
hatte zur nothwendigen Folge die Klassen-
diktatur. Seit der Junischlacht des Jahres
1848 übt die Bourgeoisie thatsächlich die Dik-
tatur — rücksichtslos, gewaltsam, wie nur je
die Diktatur im alten Römerreich ausgeübt
ward. Ja, die Aechtung der Besiegten und der
Schwächeren ist von den Diktatoren des Alter-
thums: den Marius, Sulla und Anderen,
nie in so ausgedehntem Maße und so methodisch
betrieben worden, wie nach der Junischlacht
und nach der Kommune.
Achtzehn Jahre nach der blutigen Mo
woche, die 1871 den Todeskampf der Kommm
sah — achtzehn Jahre und zwei Monate — i
Juli 1889 versammelte sich das Erste Inte
nationale Arbeiterparlament, gewäh
von organisirten Arbeitern aller Länder,
Paris, der Mutterstadt der Revolution. Wo
hatte die Internationale Arbeiterassi
ziation, dieser große, prophetische Umriß d
-um wahren Jacob" ltr. 359», 190
(Matfest-Rnnnner.)
künftigen Staats- und Gesellschaftsordnung,
schon vor 1870 vier Internationale Kongresse
gehabt, aber im Wesentlichen waren das nur
Kongresse von Pionieren, die noch keine
Organisationen hinter sich hatten. Im
Jahre 1889 war es anders. Der verbreche-
rische Bruderkrieg zwischen Deutschland und
Frankreich und die Katastrophe der Kommune
hatten der sozialistischen Bewegung einen mäch-
tigen Anstoß gegeben. Die Geister hatten sich
geklärt, die Jugendkrankheit der anarchisti-
schen Lehre und Phrase, dieses Erbstücks
der bürgerlichen Revolution, war über-
wunden. Sektenbildung hatte der Partei-
bildung Platz gemacht. In allen Kultur-
ländern hatte das klassenbewußte Proletariat
erfaßt, daß die Arbeiter sich die politische
Gewalt erkämpfen müssen, um die ökonomische
Befreiung des Proletariats zu erwirken und
der Klassenausbeutung und Klassenherrschaft
durch sozialistische Organisation der Gesell-
schaft die Existenzmöglichkeit zu entziehen.
Das Arbeiterparlament, das 1889 im hun-
dertsten Geburtsjahr der bürgerlichen Revo-
lution zusammenkam, hatte vor Augen den
Bastillensturm mit den sich ihm anschließenden
Großthaten der Jahre 1792, 1793, 1794 —
es hatte vor Augen die Junischlacht und die
Kommune. Es überschaute die Entwicklung
des Bürgerthums zur Bourgeoisie, das Werde»
und Wachsen des Kapitalismus, das Ver-
blassen des bürgerlichen Ideals der Freiheit
und Gleichheit — die blutigen Reaktionsorgien,
in die der Kapitalismus die Söhne und Enkel
der bürgerlichen Revolutionshelden und Revo-
lutionstitanen gestürzt hatte. Das Bürgerthum
hatte das Reich der Freiheit und Gleichheit
nicht zu begründen vermocht: Aufgabe des
Proletariats war es, das bürgerliche
Ideal durch den Kapitalismus zu ver-
wirklichen. Die Bourgeoisie war durch den
Kapitalismus reaktionär und kulturfeindlich
geworden — das internationale sozialistische
Proletariat trug die Zukunft der Kultur und
der Menschheit.
Diese Erkenntniß beherrschte das Pariser
Arbeiterparlament. Und um dem gemeinsamen
Denken und Fühlen als geistiges Band einen
gemeinsamen Festtag zu geben, an welchem
dieses Denken und Fühlen gleichmäßig und
gleichzeitig in allen Ländern der Erde zu feier-
lichem Ausdruck gelangen und jedem Sozia-
listen der Welt die Zusammengehörigkeit mit
seinen Brüdern und Schwestern allüberall zu
lebendigem Bewußtsein kommen soll, schuf das
Arbeiterparlament von Paris den Ersten Mai.
Der Gedanke lag in der Luft. Ausgesprochen
wurde er zuerst von einem französischen Ge-
nossen, dem voriges Jahr als Maire (Bürger-
meister) von Montlu?on verstorbenen D o r m o y,
der schon einige Monate früher auf dem Kongreß
der französischen Arbeiterpartei die Festsetzung
eines Internationalen Weltfest- und Feiertags
angeregt hatte. Mit stürmischer Begeisterung
nahm der Pariser Kongreß einstimmig den Vor-
schlag an, und einstimmig wurde beschlossen, daß
dieser Tag der Erste Mai sein solle. Es war
das Alles so selbstverständlich, daß keine Be-
rathung nöthig war. Der Neue Bund des
sozialistischen Proletariats bedurfte eines
Bundessestes, und der Erste Mai war von
der Natur für dieses Fest vorausbestimmt.
Von der Natur und von der Geschichte.
Seit unvordenklichen Zeiten, Jahrtausende
vor der christlichen Zeitrechnung, war der Erste
Mai ein Naturfest der Völker — namentlich
in den gemäßigten Zonen. Griechen, Römer,
Germanen feierten an diesem Tage den Tri-
umph der Sonne und des Frühlings über die
Nacht und die Eisfesseln des Winters. Was
die Wintersonnenwende verheißen hatte,
was die Frühlings-Tag-und Nachtgleiche
noch nicht voll erfüllte — das war am Ersten
Mai Wahrheit. Die Sonne ist Herrin ge-
worden über Winter und Nacht; die Natur
hat ihren Brautschmuck angezogen — Jubel
erfüllt die Menschen und äußert sich in Festlich-
keiten und sonstigen Kundgebungen der Freude.
Unter allen Völkern waren es in erster Linie
unsere Voreltern, die Germanen, welche das
Maifest mit heiterem Frohsinn und inbrünstiger
Andacht feierten, denn in der nordischen Hei-
math empfanden sie mehr als die Bewohner
des milden Südens das Ungemach, die Härten
und Tücken des Winters und folglich auch die
Wonnen und Wohlthaten des siegenden Früh-
lings. Sie zogen um Mitternacht in die Wälder
und auf die Bergeshöhen, erwarteten unter
Tanz und Spiel das Aufsteigen des Tages-
gestirns, dessen erste Strahlen mit Jauchzen
und Jubelsang begrüßt wurden. Das zur Staats-
religion gewordene Christenthum verbot das
Maifest wie die anderen „heidnischen" Natur-
feste unserer Altvordern und brandmarkte sie
als Teufelswerk. Das Volk aber hielt fest an
seinem Maifest, nur daß es, wie die Sozia-
listen unter dem Bismarckschen Aechtungsgesetz,
heimlich that, was öffentlich zu thun ihm
verboten war. Die christliche Priesterschaft
rächte sich, indem sie die Theilnehmer an den
Maifeiern für Hexen und Teufel ausgab.
So entstand das Märchen von dem Auszug
der Hexen in der Nacht des Ersten Mai —
und noch heute glaubt in vielen Theilen Deutsch-
lands das Volk an die Walpurgisnacht ans
dem Blocksberg im Harz, wo, dank dem
zähen Charakter des niedersächsischen Stammes,
die heidnische Feier des Ersten Mai den Ver-
folgungen am längsten getrotzt hat. Ganz unter-
drücken hat sich die Maifeier nicht lassen. In
den meisten Gegenden Deutschlands, nament-
lich wo die germanische Rasse sich rein erhalten
hat, wird in allerhand Formen und Gebräuchen
der Erste Mai noch heute gefeiert — meist
durch Maibäume und Maireiser. Aehnliches gilt
auch von England, Frankreich und anderen
Ländern der alten Welt, sowie von den Ver-
einigten Staaten Nordamerikas. Die inter-
nationale Sozialdemokratie ahmte mithin, als
sie den Ersten Mai zum Weltfesttag der Ar-
beit wählte, das Beispiel der christlichen Kirche
nach, die ihre Feste auf altheidnische gründete.
Nur daß die Sozialdemokratie das Vorgefun-
dene nicht in den Staub zog und besudelte,
sondern läuterte und erhöhte. Aus der Feier
des siegenden Frühlings und der auferstehenden
Natur wurde die Feier des siegend en Sozia-
lismus, der auferstehenden Mensch-
heit. Die sozialistische Bewegung, die so oft
mit den Anfängen des Christenthums verglichen
worden ist und die auch, trotz der Verschieden-
heit des Wesens und der Ziele, manchen Ver-