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Ulaien^auöer.
Don Änins Wagemuth.
Der Herr Kanzleirath ging spazieren. Das
that er alle Tage und so lag kein Grund vor,
warum er es nicht auch heute thnn sollte. Ein
Kanzleirath außer Diensten darf auch am ersten
Mai spazieren gehen, seine Pension erlaubt
ihm das und Niemand kann etwas Ungehöriges
darin finden. Das Wetter war schön und dem
braven alten Herrn kam die Welt recht sonn-
täglich vor. Geputzte
Menschen zogen an ihm
vorüber, Männlein und
Weiblein in buntem Ge-
misch, dazu Kinder aller
Jahrgänge, und über
dem Städtchen schien
eine recht friedliche, lu-
stige und gemüthliche
Stimmung zu schweben.
Keine Spur von Stein-
kohlenqualm und Ma-
schinengerassel, von
Webstuhlgeklapper und
Hämmerklingen. Der
Herr Kanzleirath be-
merkte das alles, und
er wußte, was es bedeu-
tete. Er war fast ärger-
lich darüber, daß die
Leute da hinausliefen,
um ein paar Stunden
miteinander vergnügt
zu sein und sich eine
Festrede halten zu lassen
von einem jungen Men-
schen, der leider sein,
des Herrn Kanzleiraths,
eigener Sohn war.
Hätte er den Jungen
doch lieber aufs Gym-
nasium, statt aufs Tech-
nikum geschickt, hätte er
ihn studiosus juris,
statt Schlosser werden
lassen. Aber der Ben-
gel wollte ja nicht.
Nun hatte er wohl
als Monteur sein
gutes Auskommen und
brauchtedemVaternicht
auf der Tasche zu lie-
gen, wie Steuerinspek-
tors Fritz, der Refe-
rendar; was will das
aber besagen, wenn die
gute Gesinnung fehlt!
Ein braver Sohn war
er ja, der Herr Kanzleirath dachte mit Rüh-
rung daran, aber ein braver Unterthan war
er nicht. Das sind schmerzliche Gefühle für
einen königlichen Kanzleirath.
Er schritt jetzt zwischen Feldern dahin und
horchte auf den Gesang einer Lerche. Ja,
wenn die Menschen wie die Lerchen wären!
Dann könnten sie pfeifen, wie ihnen der
Schnabel gewachsen ist. In einem geordneten
Staate geht das aber nicht, da muß einer
Rücksicht nehmen. Es macht doch keinen schönen
Eindruck, wenn der Sohn eines pensionirten
königlichen Beamten sich offen auf die Seite
der Rebellen schlägt, die heute ihren Heerbann
aufgeboten haben. Wie die Leute dort im
Garten sich drängen, wie sie einander begrüßen
und die Hände schütteln, wie die Kinder jubeln
und lachen! Dem Herrn Kanzleirath geht das
Herz dabei auf. Er ist auch einmal jung ge-
wesen, vor langer Zeit, als er noch Hilfs-
schreiber beim königlichen Landgericht war.
Wenn er nur nicht so bekannt wäre — ein
Glas Bier möchte er wohl trinken und sich
das Treiben einmal mit ansehen. Wenn es
aber herauskäme? Ach was, er kann doch mit
seinem Sohne etwas zu besprechen haben. Und
da ist er auch schon mitten drin im Gewühl;
zwar etwas beklommen ist ihm zu Muthe, aber
ein Glas Bier weiß er sich doch zu erobern.
Damit setzt er sich an einen Tisch, wo man
ihm bereitwillig Platz macht.
Ein Trompetenstoß ertönt, es ist das Zeichen
zum Beginn der Festrede. Der Herr Kanzlei-
rath macht krampfhafte Versuche, möglichst
gleichgiltig auszusehen, was ihm aber nicht
gelingt und auch noch nie einem Menschen in
seiner Lage gelungen ist. Da oben auf der
Tribüne steht er ja, der ungerathene Sohn
und spricht zu all den Leuten, als ob er in
seinem Leben nichts anderes gethan hätte, als
Reden halten. Der Herr Kanzleirath bekommt
eine furchtbare Angst, daß der Redner stecken
bleiben könnte. Wenn
er sich nur nicht ver-
heddert — dem Herrn
Kanzleirath passirt das
stets, wenn er einen
Toast auszubringen hat.
Aber nein, es geht ganz
gut, sehr schön sogar,
die Rede hat Hand und
Fuß. So ein Teufels-
kerl! Der Herr Kanzlei-
rath kommt ordentlich
in Feuer, so daß ihn
seine Nachbarn ver-
stohlen lächelnd betrach-
ten. Er nickt zustimmend
mit dem Kopfe oder
wiegt ihn nachdenklich
hin und her, er ruft
„Bravo" und „Sehr
gut", ja er örückt einem
Arbeiter, der neben ihm
steht, bei einer beson-
ders schönen Wendung
des Redners heftig die
Hand, worauf der Ar-
beiter sein Bier nimmt
und dem Herrn Kanzlei-
rath mit verständniß-
vollem Blinzeln zu-
trinkt. Wunderbar
war es zu sehen,
mit welcher Begeiste-
rung er am Schlüsse
in den jubelnden Bei-
fall der Hörer ein-
stimmte, mit welcher
Energie er sich zu
seinem Sohne Bahn
brach und mit welch
strahlendem Gesichter
ihn beglückwünschte.
„Das hast Du gut
gemacht, Junge", rief
der alte Herr ein
übers andere Mal, so
daß der Herr Polizei-
wachtmeister bedenk-
lich den Kopf schüttelte. Dann gings im Triumph
zum Kommers. Dort hielt der Herr Kanzlei-
rath seinerseits eine Rede, wobei er blos zwei-
mal den Faden verlor, aber dafür eine Gesinn-
ung an den Tag legte, die für einen pensionirten
königlichen Beamten radikal genug war.
Als der Herr Kanzleirath am nächsten
Morgen erwachte, hatte er außer einem schmerz-
haften Gefühl in der rechten Hand das un-
klare Bewußtsein, am Abend vorher ein halbes
Dutzend junger Mädchen geküßt und mindestens
vierzig Personen eingeladen zu haben, ihn bei
nächster Gelegenheit doch ja zu besuchen.
Ulaien^auöer.
Don Änins Wagemuth.
Der Herr Kanzleirath ging spazieren. Das
that er alle Tage und so lag kein Grund vor,
warum er es nicht auch heute thnn sollte. Ein
Kanzleirath außer Diensten darf auch am ersten
Mai spazieren gehen, seine Pension erlaubt
ihm das und Niemand kann etwas Ungehöriges
darin finden. Das Wetter war schön und dem
braven alten Herrn kam die Welt recht sonn-
täglich vor. Geputzte
Menschen zogen an ihm
vorüber, Männlein und
Weiblein in buntem Ge-
misch, dazu Kinder aller
Jahrgänge, und über
dem Städtchen schien
eine recht friedliche, lu-
stige und gemüthliche
Stimmung zu schweben.
Keine Spur von Stein-
kohlenqualm und Ma-
schinengerassel, von
Webstuhlgeklapper und
Hämmerklingen. Der
Herr Kanzleirath be-
merkte das alles, und
er wußte, was es bedeu-
tete. Er war fast ärger-
lich darüber, daß die
Leute da hinausliefen,
um ein paar Stunden
miteinander vergnügt
zu sein und sich eine
Festrede halten zu lassen
von einem jungen Men-
schen, der leider sein,
des Herrn Kanzleiraths,
eigener Sohn war.
Hätte er den Jungen
doch lieber aufs Gym-
nasium, statt aufs Tech-
nikum geschickt, hätte er
ihn studiosus juris,
statt Schlosser werden
lassen. Aber der Ben-
gel wollte ja nicht.
Nun hatte er wohl
als Monteur sein
gutes Auskommen und
brauchtedemVaternicht
auf der Tasche zu lie-
gen, wie Steuerinspek-
tors Fritz, der Refe-
rendar; was will das
aber besagen, wenn die
gute Gesinnung fehlt!
Ein braver Sohn war
er ja, der Herr Kanzleirath dachte mit Rüh-
rung daran, aber ein braver Unterthan war
er nicht. Das sind schmerzliche Gefühle für
einen königlichen Kanzleirath.
Er schritt jetzt zwischen Feldern dahin und
horchte auf den Gesang einer Lerche. Ja,
wenn die Menschen wie die Lerchen wären!
Dann könnten sie pfeifen, wie ihnen der
Schnabel gewachsen ist. In einem geordneten
Staate geht das aber nicht, da muß einer
Rücksicht nehmen. Es macht doch keinen schönen
Eindruck, wenn der Sohn eines pensionirten
königlichen Beamten sich offen auf die Seite
der Rebellen schlägt, die heute ihren Heerbann
aufgeboten haben. Wie die Leute dort im
Garten sich drängen, wie sie einander begrüßen
und die Hände schütteln, wie die Kinder jubeln
und lachen! Dem Herrn Kanzleirath geht das
Herz dabei auf. Er ist auch einmal jung ge-
wesen, vor langer Zeit, als er noch Hilfs-
schreiber beim königlichen Landgericht war.
Wenn er nur nicht so bekannt wäre — ein
Glas Bier möchte er wohl trinken und sich
das Treiben einmal mit ansehen. Wenn es
aber herauskäme? Ach was, er kann doch mit
seinem Sohne etwas zu besprechen haben. Und
da ist er auch schon mitten drin im Gewühl;
zwar etwas beklommen ist ihm zu Muthe, aber
ein Glas Bier weiß er sich doch zu erobern.
Damit setzt er sich an einen Tisch, wo man
ihm bereitwillig Platz macht.
Ein Trompetenstoß ertönt, es ist das Zeichen
zum Beginn der Festrede. Der Herr Kanzlei-
rath macht krampfhafte Versuche, möglichst
gleichgiltig auszusehen, was ihm aber nicht
gelingt und auch noch nie einem Menschen in
seiner Lage gelungen ist. Da oben auf der
Tribüne steht er ja, der ungerathene Sohn
und spricht zu all den Leuten, als ob er in
seinem Leben nichts anderes gethan hätte, als
Reden halten. Der Herr Kanzleirath bekommt
eine furchtbare Angst, daß der Redner stecken
bleiben könnte. Wenn
er sich nur nicht ver-
heddert — dem Herrn
Kanzleirath passirt das
stets, wenn er einen
Toast auszubringen hat.
Aber nein, es geht ganz
gut, sehr schön sogar,
die Rede hat Hand und
Fuß. So ein Teufels-
kerl! Der Herr Kanzlei-
rath kommt ordentlich
in Feuer, so daß ihn
seine Nachbarn ver-
stohlen lächelnd betrach-
ten. Er nickt zustimmend
mit dem Kopfe oder
wiegt ihn nachdenklich
hin und her, er ruft
„Bravo" und „Sehr
gut", ja er örückt einem
Arbeiter, der neben ihm
steht, bei einer beson-
ders schönen Wendung
des Redners heftig die
Hand, worauf der Ar-
beiter sein Bier nimmt
und dem Herrn Kanzlei-
rath mit verständniß-
vollem Blinzeln zu-
trinkt. Wunderbar
war es zu sehen,
mit welcher Begeiste-
rung er am Schlüsse
in den jubelnden Bei-
fall der Hörer ein-
stimmte, mit welcher
Energie er sich zu
seinem Sohne Bahn
brach und mit welch
strahlendem Gesichter
ihn beglückwünschte.
„Das hast Du gut
gemacht, Junge", rief
der alte Herr ein
übers andere Mal, so
daß der Herr Polizei-
wachtmeister bedenk-
lich den Kopf schüttelte. Dann gings im Triumph
zum Kommers. Dort hielt der Herr Kanzlei-
rath seinerseits eine Rede, wobei er blos zwei-
mal den Faden verlor, aber dafür eine Gesinn-
ung an den Tag legte, die für einen pensionirten
königlichen Beamten radikal genug war.
Als der Herr Kanzleirath am nächsten
Morgen erwachte, hatte er außer einem schmerz-
haften Gefühl in der rechten Hand das un-
klare Bewußtsein, am Abend vorher ein halbes
Dutzend junger Mädchen geküßt und mindestens
vierzig Personen eingeladen zu haben, ihn bei
nächster Gelegenheit doch ja zu besuchen.