Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 17.1900

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8185#0184
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
3328

auch über Leipzig und Umgegend der Belagerungszustand ver-
hängt und damit unsere Ausweisung herbeigeführt. Mir wurde
die Nachricht von der beabsichtigten Verhängung des Belagerungs-
zustandes schon vierundzwanzig Stunden vorher hinterbracht
und ich unterrichtete sofort Liebknecht und die maßgebenden Ge-
nossen. Ueberrascht wurden wir nicht, denn daß auch einmal
Leipzig passiren würde, was Berlin und Hamburg schon passirt
war, lag nahe. Am 29. Juni wurden wir aus die Polizei
zitirt und erhielten den Befehl, binnen drei Tagen Leipzig und
das Gebiet der Amtshauptmannschaft Leipzig zu verlassen.
Für uns handelte es sich jetzt darum, einen Ort zu finden, der
möglichst nahe dem Belageruiigszustandsgebiet und unseren Familien
lag. So wählten wir Borsdorf. Am ersten Juli Nachmittags
wunderten Liebknecht, der mittlerweile auch gestorbene Genosse
Xylograph Burckhardt und ich zu Fuß nach Borsdorf. Die Polizei
erwartete uns an der Bahn in Leipzig und war nicht wenig er-
staunt, daß wir uns nicht sehen ließen.

In Borsdorf angekommen, mietheten wir bei einem Schneider-
meister ein paar Zimmer. Sobald derselbe aber erfuhr, wer wir
waren, bekam er es mit der Angst zu thun und setzte uns auf
die Straße. Auch mit der Verpflegung gab es Anfangs Schwierig-
keiten. Der Wirth des Bahnhofs eilte nach Leipzig zur Kreis-
hauptmannschaft, um zu hören, ob er uns Essen und Trinken
geben dürfe. Natürlich stand diesem nichts im Wege. Da ich
entschlossen war, die nächsten Tage auf die Geschäftsreise zu
gehen, miethete ich mich im sogenannten Rosenschlößchen aus ein
paar Tage ein. Liebknecht bekam in einem anderen Hause ein ein-
fenstriges Zimmer, in dem er zeitweilig mit seiner Familie bis zum
Herbste des nächsten Jahres hauste, wo ich in Borsdorf Quartier
nahm und nun ein Haus entdeckte, in dem wir Beide auskömm-
liche, wenn auch ärmlich ausgestattete Räume miethen konnten.
Dort hat Liebknecht bis zu seiner Uebersiedelung nach Berlin,
September 1890, gewohnt, wohingegen ich Herbst 1884 meine
Familie von Leipzig wegnahm und nach Plauen bei Dresden
iibersiedelte.

Als die Leipziger Genossen hörten, daß wir hart auf der
Grenze des Belagerungszustandsgebiets Posto gefaßt hatten, war
der Jubel groß. Von da ab verging kein Sonn- oder Feiertag,
an dein nicht ein Theil von ihnen, und oft ganze Blassen, nach
Borsdorf kamen, das ein förmlicher Wallfahrtsort für sie wurde.
Oft hielten wir unter freiem Himmel geheime Versammlungen ab,
wobei es galt, durch Ausstellung von Posten, die herumstreifende
Polizei uns vom Halse zu halten.

Liebknecht war 1879 von Leipzig-West in den sächsischen
Landtag gewählt worden, mich sandte Leipzig-Ost 1881, zwölf
Tage nach meiner Ausweisung und als Antwort darauf an die-
selbe Stelle. Ohne meine Ausweisung hätte ich ein Mandat zum
Landtag niemals angenommen. So bekamen wir Gelegenheit,
nicht nur im Landtag der sächsischen Regierung einzuheizen, was
gründlich geschah, sondern auch eine Position, von der aus wir
für die Partei in jeder Weise wirken konnten. Anfangs ging es
uns in Dresden wie in Borsdorf. Sobald unsere Wirthe er-
fuhren, wer wir waren, kündigten sie uns die Wohnungen, und
nur mit Mühe konnten wir andere erhalten. Das erging so auch
Vollmar, als er 1883 in den sächsischen Landtag einzog.

Aber endlich hatten die Thatsachen unseren Feinden gezeigt,
daß sie mit dem Ausnahmegesetz uns nicht vernichten konnten.
Das Gegentheil. Unsere Ausweisung gab uns nur die größere
Freiheit, zu agitiren. Auch Singer war 1886 ein Opfer des
kleinen Belagerungszustandes geworden und kaui nach Dresden
beziehungsweise zu uns nach Plauen. Damit war ein sein Kon-
vivium zusammen.

Liebknecht war die Ausweisung nicht so schrecklich, wie viel-
fach angenommen wurde. Selbstverständlich schmerzte ihn tief
die Trennung von der Familie, aber Leipzig war nahe und so
war die Familie an Sonn- und Feiertagen und während der
Schulferien vollzählig um ihn versammelt. Dagegen sagte
ihm die Freiheit der Thätigkeit, die ör jetzt bekam, um so
mehr zu. An einen Posten gefesselt zu sein, der seine Zeit

zwangsweise in Anspruch nahm, war ihm in der Seele verhaßt.
Ich bin überzeugt, er hat seine Chesredakteurschasl bei den ver-
schiedenen Parteiorganen, die ihn wenigstens in gewissem Grade
an den Ort ihres Erscheinens fesselte, stets als eine Art Sklaverei
empfunden. Nach voller Ungebuudenheit lechzte er. Heute hier,
morgen dort zu sein, überall einzugreifen, zu ratheu und zu
wirken, darnach stand sein Sinn. Ich glaube, hätte er drei Viertel
des Jahres auf der Bahn sein und umherreisen können, sein
Ideal wäre erfüllt gewesen. Diesem Drange nach Ungebunden-
heit entsprach sein Borsdorfer Aufenthalt. Es verging fast keine
Woche, wo er nicht die Wurzener Genossen, oder Haseuclever
in Halle und später in Dessau, oder uns in Dresden besuchte,
wenn nicht Parteiangelegenheiten ihn nach Zürich oder sonst
wohin beriefen. Als eines Tages Singer von Borsdorf zurück-
kain und ganz unglücklich über die Wohnräume war, in welchen
der Alte hauste, mußte ich ihn dainit trösten, daß ich nie
darüber ein Wort der Klage von ihm gehört. Was ihm den
Aufenthalt in Borsdorf noch besonders erträglich machte, war
die Liebe und Anhänglichkeiit, welche die Leipziger Genossen ihm ent-
gegenbrachten. Daher kam es auch, daß, als Singer und ich bei
dem bevorstehenden Falle des Sozialistengesetzes uns über die neue
Ordnung in der Partei verständigt hatten, wie sie nach unserer
Meinung werden sollte, er unseren Vorschlag, nach Berlin
überzusiedeln und die Chefredaktion des „Berliner Volksblatts"
(Vorgänger des „Vorwärts") zu übernehmen, rundweg ablehnte.
Er wollte in Leipzig bleiben und dort ein Zentralparteiblatt über-
nehmen, ähnlich dein ehemaligen „Volksstaat", später „Vorwärts".
Es war schwer, ihn zu überzeugen, daß dies unmöglich sei, weil
die Verhältnisse mittlerweile ganz andere geworden seien. Schließ-
lich machte er seine Zustimmung zur Uebersiedelung von der Zu-
stimmung seiner Frau abhängig, die, wie wir wußten, ebenfalls
der Uebersiedelung abgeneigt war, was sich bei ihrem langen
Aufenthalt in Leipzig, den Schwierigkeiten, die eine Unterbrechung
des Bildungsganges ihrer Kinder zu bieten schien, und der uoth-
wendigen Trennung von liebgewordenen Freunden leicht erklärt.
Doch es gelang, sie für den Plan zu gewinnen. Nun stimmte
auch der Alte zu, aber schweren Herzens. Noch verschiedene Jahre
später trug er sich mit dem Gedanken einer Rückkehr nach Leipzig
und klagte uns an, daß wir ihn in eine ihm nicht zusagende
Position gebracht hätten.

Frau und Kinder hatten sich längst an den Aufenthalt in
Berlin gewöhnt, endlich brach auch bei ihm das Eis. Wie ehe-
mals die Leipziger, so hatten es ihm jetzt die Berliner Genossen
angethan. In ihrer Mitte fühlte er sich am wohlsten, und was
er ihnen in unermüdlicher, nie rastender, nie ruhender Thätigkeit
geleistet, davon legen Zeugniß ab die Blätter des „Vorwärts"
und dafür legt vor Allem Zeugniß ab die großartige, in ihrer
Art einzig dastehende Todtenfeier, die sie ihrem Alten bereiteten.
So wie Wilhelm Liebknecht ist wenigstens in Deutschland noch nie
ein Mensch, weder Fürst noch Staatsmann, noch Bürger zur
letzten Ruhe geleitet worden. Wer Gelegenheit hatte, diesem
letzten Weg unseres Alten beizuwohnen, dem wird dieser Vor-
gang unvergeßlich bleiben. Den Höhepunkt dieses einzig da-
stehenden Begräbnisses bildete der Einzug in den Friedhof, als
Tausende von Kranzträgern Mann neben Mann zu beiden Seiten
des Weges sich ausgestellt hatten und zwischen ihnen der Zug
passirte.

-I- *

-i-

Wilhelm Liebknecht ist nicht mehr und auf lange noch wird
eine Lücke in unseren Reihen klaffe», die unausfüllbar erscheint.
Was er uns war, was er für die Partei geleistet, wird unaus-
löschlich in uns weiterleben. In seiner Person starb der letzte
der großen Alten, die an der Wiege der Bewegung standen — zuerst
Lassalle, dann Marx, dann Engels, jetzt er — und denen das Prole-
tariat aller Länder zu unauslöschlichem Danke verpflichtet ist. Wo
wären wir ohne sie? Wie jenen Drei, die ihm voraus gingen, so
werden wir auch Wilhelm Liebknecht bis zu unserem letzten Athemzug
in Liebe gedenken und seinem Beispiel nachzustreben suchen.

Verantwortlich für die Redaktion Friedr. Fischer in Stuttgart. — Verlag und Druck von I. H. W. Dietz Nachf. (G. m. b. H.) in Stuttgart, Furthbachstraße 12.
 
Annotationen