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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 17.1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.8185#0227
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3371

weltxolitik vor fünfzig Jahren.

WellpotiiiK vor fünftig Jahren.

Wie friedlich liegt das Städtchen;

Sanft tönt der Glocken Schall,

Der Würger geht spazieren
Des Sonntags auf dem Wall.

Lr fühlt fich treu behütet
Im Schuh der Dolizei.

Don Außerhalb erzählt ihm
Die „Weltpost" mancherlei:

Äs ward auf den Schah von Wersten
Äin Attentat vollführt,

Drau Henriette Sontag
Wat in New-Uork gaftirt.

Guhkows „Vergangene Tage"

Sind konflszirt in Werlin,

Noch immer herrscht der strenge
Welagerungszustand in Wien.

Äs erntete großen Wcifall
Dn Dresden der Dawifon;

In Aranbreich krönte stch selber
Der Louis Napoleon.

Die akademische Dreiheit
Schlug man in Leipzig todt,

Nm Duchthaus zu Waldheim starb wieder
Lin deutscher Datriot. . .

Die schöne Marietta.

Line mysteriöse Seschichte von «arl v. Heugel.

Sie war bezaubernd, diese Marietta, der
erste Stern der vornehmen Spezialitätenbühne.

Baron Büchel, der mit Herrn van der
Straaten, einem Holländer, in der vordersten
Reihe des ersten Ranges saß, vermochte kein
Auge von der reizenden Erscheinung zu wenden.

Die weißen, wohlgepflegten Hände des Ba-
rons, welche das Opernglas hielten, zitterten
vor nervöser Erregung.

„Welch ein Weib! Welch ein Weib!" ent-
rang es sich, gleichsam wider Willen, seinen
zusammengepreßten Lippen.

„Sie haben Recht", bemerkte van der Straaten,
„ein satanisch schönes Geschöpf. Schade, daß
sie so unnahbar, ist."

Der Baron ließ das Opernglas sinken.

„Unnahbar?" wiederholte er, während ein
fieberhafter Glanz seine matten Augen auf«
leuchten ließ. „Hm — mit Unterschied."

Der dicke Holländer lächelte phlegmatisch.

„Spielen Sie mir doch keine Komödie vor,
Baron! Wollen Sie mich vielleicht glauben

machen, daß Sie glücklicher gewesen als wir
Anderen? Die gesammte Lebewelt der Residenz
liegt ihr zu Füßen, man hat sie mit Juwelen
üb erschüttet, man hatsich hinter ihren Impresario
gesteckt und diesen aalglatten Italiener eben-
falls mit Geschenken überhäuft — Alles um-
sonst. Uebrigens sonst ein ganz patenter Kerl —
der Signor Montani."

In diesen: Augenblick durchzitterte rauschen-
der Applaus die weiten Räume des Theaters.
In immer neu anschwellenden Wogen erhob
er sich, die gefeierte Künstlerin unaufhörlich
vor die Rampen rufend.

Sie verneigte sich mit reizendem Lächeln,
die nachtschwarzen Augen wie suchend an den
Rängen vorübergleiten lassend.

Jetzt hatte sie den Baron erblickt.

Eine Sekunde lang hafteten die Blicke des
schonen WeibeS mit seltsamem Ausdruck auf
seinem fahlen Gesicht.

Der Baron hatte den Blick aufgefangen.
Unwillkürlich beugte er sich weit über die
Brüstung hinaus.

„Marietta!" rief er heiser.

Die kalte Stimme van der Straatens weckte
ihn aus seiner Verzückung.

„Sie schwärmen, Baron. Etwas Eis ge-
fällig?"

Mühsam sich fassend, schob Büchel seinen
Arm unter den des dicken Holländers, ihn mit
sich nach dem Foyer ziehend.

Der erste Theil des Programms war vor-
über. Plaudernde Gruppen durchschwirrten die
teppichbelegten Gänge.

Die Unterhaltung bewegte stch fast nur um
Marietta. Seit drei Wochen verdrehte die
reizende Sängerin der ganzen Herrenwelt der
Residenz die Köpfe.

Mehr noch als der süße Liebreiz, der ihre
weichen, geschmeidigen Glieder umfloß, und
ihren einschmeichelnden, träumerischen Weisen,
die sie mit wundervoller Sopranstimme vor-
trug, als Untergrund diente, übte der Zauber
des Geheimnißvollen, mit welchem sie sich zu
umgeben gewußt, eine unwiderstehliche An-
ziehungskraft auf die Gemüther aus.

Marietta Bertucci empfing absolut keine Be-
suche. Man sah dieverführerischeLiedersängerin
nie anders als Abends auf der Bühne. Die
Karten und Geschenke der liebedurstigen Kava-
liere nahm stets der Portier ihres Hotels mit
undurchdringlichem Lächeln entgegen. Nichts
vermochte sie aus ihrer strengen Reserve hervor-
zulocken. Nur Signor Montani, ihr Impresario,
hatte Zutritt zu ihr.

Die wunderlichsten Gerüchte waren über sie
im Umlauf. Man nannte sie nur noch das
lebendige Räthsel — die Sphinx. Einige
wollten wissen, Signor Montani, der, beiläufig
bemerkt, ein sehr schöner Mann war, sei mit
ihr verheirathet. Der Impresario wies der-
artige Vermuthungen, wenn sie in seiner Gegen-
wart laut wurden, lächelnd, aber entschieden
zurück und hatte stets die eine stereotype Ant-
wort, daß die Künstlerin zwingende Gründe
für ihre Zurückgezogenheit habe.

Marietta trat heute zum letzten Male auf.
Der nächste Morgen sollte sie nach Paris ent-
führen.

Baron Büchel lief, von fieberhafter Unruhe
getrieben, im Foyer auf und ab.

Der Holländer hielt sich stets an seiner Seite.

„Suchen Sie Jemand, Baron?" fragte er,
da er bemerkte, daß Büchels Blicke forschend
bald auf dieser, bald auf jener Gruppe haften
blieben.

„Ja, den Impresario."

„Unnöthiges Bemühen — Signor Montani
ist während der Vorstellung stets unsichtbar.
Der Dienst fesselt ihn an die Sängerin."

„Er hatte mir versprochen —"

Das elektrische Klingelzeichen, das den Fort-
gang der Vorstellung ankündigte, unterbrach
die Unterhaltung. Die Ränge und das Parquet
füllten sich wieder.

Die ersten Piecen ließen das Publikum ziem-
lich kalt. Alles wartete auf Marietta, welche
die vorletzte Nummer hatte.

Endlich war der Moment ihres Auftretens
gekommen. Der Vorhang rauschte empor und
die schöne Sphinx zeigte sich zum letzten Male
den bewundernden Blicken ihrer Verehrer.

Da stand sie, in einem Gewebe von zartestem,
duftigstem Rosa, das ihre schwellenden Formen
wunderbar hervortreten ließ, die schwarzen
Locken, in denen ein diamantener Stern blitzte,
mit ungeduldiger Hast von den herrlichen
Schultern zurückstreifend.

Wie auf Moudesschwingen erhob sich Ma-
riettas Lied, erst zärtlich und leise, dann immer
machtvoller, wie unaufhaltsam daherbrausender
Frühlingssturm.

Baron Büchel drehte in nervöser Unruhe
an seinem Schnurrbart.

„Können Sie schweigen?" wandte er stch
plötzlich an van der Straaten.

Dieser sah ihn verwundert an.

„Sie hat mich bestellt, für nachher", fuhr
der Baron fort.

Van der Straaten lachte.
 
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