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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 17.1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.8185#0230
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parlamentarische Aachrichten

oj cjF'cts NS 3

Der neue Antrag Kanitz.

Von seinem Gute Podangen war Hans Graf
v. Kanitz in Berlin eingetroffen und hatte im
Hotel Windsor eine Nothstandswohnung genom-
men. Er konnte den Jammer des historisch-
gewordenen geflickten Strohdächer-Elends in
Podangen einfach nicht länger mehr mit an-
sehen. Es war ja auch nicht zum Aushalten!
Die Roggen- und Weizenernte war so über-
reichlich gewesen, daß die weitläufigen und
alljährlich vergrößerten Scheuern sich bogen
und die Böden zu brechen drohten; es existirte
also Baunoth! Bei der durch das Fleisch-
beschaugesetzvermindertenausländischen Fleisch-
zufuhr war nicht nur der Fleischbedarf enorm
gestiegen, sondern vor allen Dingen auch der
Rinder-und Schweinepreisrasch Hinaufgetrieben
worden, so daß die Großviehhandlung, mit
der Podangen in Geschäftsverbindung stand,
bereits jetzt alles verkäufliche Vieh glatt ab-
genommen hatte. Die geleerten Stallungen
zeugten von der Viehnoth! Die erzeugten
Spiritusmengen der Guts-Schnapsbrennerei
erfreuten sich einer so lebhaften Nachfrage
seitens der Händler wie nie zuvor. Es konnte
nicht mehr so viel Schnaps erzeugt werden, als
in den Kriegervereinskreisen getrunken wurde,
das war doch ein schreiender Beweis für die
landwirthschaftliche Brenn er ein oth!

Diese vielfachen agrarischen Nothstände ver-
ursachten, daß dem armen Grafen nichts mehr
schmeckte. Der Vater des „Antrags Kanitz",
des „Verzweiflungsmittels der nothleidenden
Landwirthschaft", stand direkt vor dem schreck-
lichsten Nothstand: vor Nahrungssorgen!

Kann man es dem Verzweifelnden verdenken,
wenn er dem geflickten Strohdächerelend Ost-
elbiens entfloh?

So saß er da, eine menschgewordene Ver-
körperung der nothleidenden junkerlichen Land-
wirthschaft, die Hände in die Taschen des
blauen Cheviotjaketts versenkt, mit dem um-
florten, müde schweifenden Blick, den er im
Reichstag zeigt, wenn er einen tiefsinnigen
Gedanken von sich giebt. Vor ihm lag die
neueste Nummer der „Deutschen Tageszeitung",
die sein Reichstagskollege Oertel init der weißen
Nothstandsweste redigirte. Da fiel sein Blick
auf einen Artikel des Hallenser Professors
Kühne: „Der bewegliche Getreidezoll". Der
Mann schlug vor, um der Nothlage der Land-
wirthschaft abzuhelfen, sollte folgender Vor-
schlag Gesetz werden: Wenn der Getreidepreis
nach amtlicher Börsennotiz vier Wochen hin-
durch andauernd unter 155 Mark pro Tonne
Weizen und 130 Mark pro Tonne Roggen ge-
standen habe, sei der Bundesrath verpflichtet,
die Erhebung des doppelten Zolles von 7 Mark
anzuordnen und erst dann wieder auf 3,50 Mark
pro Doppelzentner herabzusetzen, wenn an-
dauernd vier Wochen hindurch der Weizenpreis
190 Mark und der Roggenpreis 165 Mark
pro Tonne betragen habe. Daran waren lange
Berechnungen geknüpft über die Profite, welche
die Junker während vier Wochen hoher Preise,
die sich im Jahre zehn Mal wiederholen könn-
ten, machen würden.

Als der Graf zu Ende gelesen hatte, sprang
er wüthend auf. Das war ja mehr als der
„Antrag Kanitz"! Er war überkanitzt. Das
durfte er stch nicht bieten lassen. Und so setzte
er sich an den Mahagonischreibtisch und stili-
sirte folgenden neuen

Antrag Kanitz «nd Genossen

auf Erlaß eines Gesetzes, betr. Aenderungen
und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs.

Unterzeichnete beantragen, mit Inkrafttreten
der neuen Handelsverträge, an noch näher zu
bestimmenden Stellen des Strafgesetzbuches fol-
gende Paragraphen einzufügen:

Wer es unternimmt, durch öffentliche Schrif-
ten, Abbildungen oder Darstellungen, durch
öffentliche Reden, Gesänge oder mimische Pro-
duktionen für die Ermäßigung der Preise der
landwirthschaftlichen Erzeugnisse Propaganda
zu machen, wird mit Gesängniß nicht unter
drei Monaten bestraft.

Wer es unternimmt, das vom Ausland ein-
geführte Getreide, Vieh, Fleisch und landwirth-
schaftliche Erzeugnisse jeder Art, die in Deutsch-
land selbst produzirt werden, zum Verkauf zu
bringen, wird mit Gesängniß nicht unter einem
Jahre bestraft. Der Versuch ist strafbar.

Wer es unternimmt, an den Preisen der in
Deutschland hervorgebrachten landwirthschaft-
lichen Erzeugnissen aller Art, insbesondere an
den Preisen des nationalen Viehes, des natio-
nalen Schweines, des nationalen Schnapses,
Roggens und Weizens beim Einkauf zu mäkeln
oder abzuhandeln, wird mit Zuchthaus nicht
unter einem Jahre bestraft. Wenn der Käufer
oder die Käuferin bei dem Handelsgebaren
eine besondere Gemeinheit der Gesinnung an
den Tag legen, ist daneben auf Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen.

Wer es unternimmt, bei Wahlen zum Reichs-
tag oder zum Landtag Leuten seine Stimme
zu geben, von denen bekannt ist oder sich nach
ihrer Parteistellung oder ihren privaten Aeuße-
rungen annehmen läßt, daß sie dem staats-
erhaltenden Stande der Landwirthschaft, ins-
besondere dem Landwirthschaft treibenden Adel,
nicht wohlgesinnt find, ist das passive und aktive
Wahlrecht zu entziehen.

Als der Graf diesen Gesetzentwurf fertig
hatte, sandte er ihn an die „Deutsche Tages-
zeitung". Dann bestellte er sich ein Nothstands-
souper mit obligaten Nothstandsgetränken.

Der Chefredakteur der nothleidenden Land-
wirthschaft brütete gerade vor seinem Re-
daktionspult. Er hatte bereits das „Dresdner
Journal" und die „Kgl. Leipziger Zeitung" aus-
geschlachtet, aber er fand keinen Gedanken, so
wüthend er auch allmälig zwölf Federkiele zer-
kaute. Da brachte der Eilbote den neuen Antrag
Kanitz. Oertel las ihn, dann sprang er fröhlich
auf: „Heureka! Endlich ein Gedanke!" Und
flott schrieb er unter den neuen Antrag Kanitz:
Amendement Oertel.

Dem obigen Gesetzentwurf ist folgender
Paragraph zuzufügen:

Bei Personen, bei denen durch die Listen zur
Steuerveranlagung ein Jahreseinkommen von
nur 3000 Mark oder weniger festgestellt wird,
die mithin nicht zu den gebildeten Ständen ge-
hören, ist die Gesängniß- und Zuchthausstrafe
durch Prügelstrafe zu verschärfen.

So verschönert gab er den neuen Antrag
Kanitz zum Satz. Dabei brummte er vergnügt:
„Die Breiss'n genn'n nich' mit. Mir Sachsen
sein doch allemal noch heller."

Dann ging er in den nahe der Redaktion
gelegenen „Leipziger Hof". Dort gab's heute
ffeinNationalgericht: Gose und Schweinsknöchel,
und selbstzufrieden versenkte er Bissen auf Bissen
in die unergründlichen Tiefen seines Noth-
standsbauches. e. r.

Die verkehrte Welt.

In bürgerlichen Blättern werden Stimmen
laut, die auch von den staatserhaltenden Par-
teien eine offene Kritik der China-Expedition
verlangen, „umdensozialdemokratischen
Rednern den Wind aus den Segeln zu
nehmen."

Erste Sitzung des Deutschen Reichstags.

(Im Voraus ausgenommen.)

Chlodwig von Hohenlohe (M in (einer

ganzen Größe aufrichtend, mit klarer, vernehmbarer Stimme):

Ich beehre mich, dem Hohen Hause die Mitthei-
lung zu machen, daß meine Demission von
Seiner Majestät angenommen worden ist. Die
Art, in der ich meine verantwortliche Stellung
ausgefüllt habe, ist dem Ansehen des Deutschen
Reiches keineswegs förderlich gewesen, und ich
zog nur die Konsequenzen hieraus, indem ich
Aint und Würde niederlegte. Jetzt sind kräftigere
Schultern damit belastet worden. (Händedrücken aus
der Ministerbank. Der Redner wird beglückwünscht.)

Präsident Graf Ballestrem: Seine schei-
dende Durchlaucht möge mir einen kurzen Nach-
ruf gestatten! Geruhen Exzellenz, für den mann-
haften Entschluß, den Reichskanzlerposten nieder-
zulegen, dem Sie in keiner Weise gewachsen
waren, unseren ehrfurchtsvollsten Dank entgegen-
zunehinen. Ich konstatire die Zustiminung des
Hauses. Das Wort hat der

Abgeordnete Hasse lnattonalliberai): Diese
ganze Weltmachtsschwärmerei ist der faulste
Zauber, den wir erlebt haben. (Bravo i auf den
Bänken der Konservativen.) Nicht größer muß das
Vaterland sein, sondern im Innern gefestigter.
Weshalb suchen wir fremde Wüsteneien, wo doch
das Gute (Zwischenrufe der Abgeordneten Kardorff und
Klinkowstrom! Osteibien) so nahe liegt?

Präsident: Der Abgeordnete Richter ver-
zichtet angesichts dieser Erklärungen auf das
Wort. Ich ertheile dasselbe dem Herrn

Reichskanzler v. Bülow: Durch eine
Reihenfolge von bedauerlichen Mißgriffen der
europäischen und insbesondere der deutschen Diplo-
matie wurde das Reich auf abenteuerliche Wege
geführt, die schleunigst verlassen werden müssen.
(Stürmische Rufe auf der Rechten.) Die Ereignisse haben
gelehrt, daß die wahren Anstifter der chinesischen
Wirren eher in den Reihen der weißen als der
gelben Rasse zu suchen sind. Wir können nicht
ohne tiefe Beschämung (Abgeordneter Hasse schämt sich
hörbar mit) den vieldurchlöcherlen Mantel der
Zivilisation (Sehr gut! rechts) als Decke von Greuel-
thaten verwenden, wie sie leider vor und nach
Ausbruch des Krieges verübt worden sind. (Mit
vor Erregung zitternder Stimme): Ich glaube kllUIN,
an Ihr Mitleid appelliren und Sie erst bitten
zu müssen: hören Sie auf, beständig Millionen
für Mordwerkzcuge zu bewilligen, damit das Blut
von Tausenden unserer Söhne vergossen und ein
harmloses Volk in blinder Wuth vernichtet wird.
Ihr Gerechtigkeitssinn wird mir eine warme
Fürsprache sein! Raum für Alle hat die Erde!

(Setzt sich, da er außer Stande ist, weiterzusprechen.)

Präsident: Der Herr Abgeordnete Bebel
verzichtet in Folge der Ausführungen des Herrn
Reichskanzlers auf das Wort. Dasselbe hat
Abgeordneter Freiherr v. Kardorff:
Wir Alle sind wohl darin einig: so kann es nicht
weiter gehen! Sehen Sie diesen Kurszettel an

(zieht ein blauhektographirtes Blatt aus der Tasche): was

haben wir nicht in den letzten Tagen verloren!
Gegen unsere Verluste an der Börse sind die
auf den Schlachtfeldern wahrhaftig verschwindend
klein. Mein theurer Freund Krupp hat, von
 
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