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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 18.1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.6609#0029
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3427 —

ÄeUpoUiiK. „wie soll das werden, wenn Großmutter erst 'mal stärker bläst?"

-SH*«—

Gin Rückblick ins alte und ein Ausblick ins neue Jahrhundert.

Uon August Bebel.

Das neunzehnte Jahrhundert ist zu Ende.
Ein Jahrhundert, das mehr als jedes andere
seiner Vorgänger ein revolutionäres Jahr-
hundert genannt werden muß. Gewiß, das
sechzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der
Reformation und der Bauernkriege, und das
achtzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der
Encyklopädisten und der weltbewegenden großen
französischen Revolution, waren ebenfalls her-
vorragende Marksteine in der Entwicklung der
Menschheit. Und doch ragen sie nicht an das
neunzehnte Jahrhundert heran, das die Ernte
brachte von dem, was die früheren Jahrhun-
derte gesät, und das wieder die Keime schuf zu
neuen Weltumgestaltungen, die das nunmehr
begonnene Jahrhundert, das zwanzigste, zu
voller Entfaltung und Reife bringen wird.

Das neunzehnte Jahrhundert begann mit
Krieg und Kriegsgeschrei, das durch ganz
Europa hallte. Napoleon, der Testamentsvoll-
strecker der großen Revolution, reinigte mit
eisernem Besen den Boden für die neue Saat,
aus welcher der bürgerliche Staat und die groß-
bürgerliche Gesellschaft wie in Frankreich so
auch im übrigen kontinentalen Europa empor-
wachsen konnte.

Die Hindernisse, die dieser Entwicklung in
Deutschland noch entgegenstanden, wurden durch
die bürgerlichen Revolutionen der dreißiger
und vierziger Jahre und endgiltig durch die
Bismarckschen Revolutionen von Oben (1866
un^ 1870/71) hinweggefegt.

4ßav damit der politische Boden geschaffen,

aus dem die kapitalistische Entwicklung schranken-,
los sich entfalten konnte, so waren eine Reihe
wissenschaftlicher Entdeckungen und Erfin-
dungen zum Theil schon Jahrzehnte voraus-
gegangen, die den ökonomischen Untergrund
schufen, auf dem die neue soziale Ordnung
sich aufbauen konnte.

Die Naturwissenschaften hatten seit dem
Ende des achtzehnten Jahrhunderts riesenhafte
Fortschritte gemacht. Die Namen Lavoisier,
Gay Lnssae, Berzelius, Mitscherling, Justus
Liebig, Kekulö, Berthelot u. s. w. markiren die
Etappen, welche die Chemie bis in unsere
Tage durchlaufen hat. An Lavoisier und Gay
Lnssae schlossen sich wieder die Galvani, die
beiden Herschel, die Faraday, die Grove, die
Fraunhofer, die Kirchhoff und Bunsen, die
Robert Mayer, Helmholtz und Hertz an, die
die Physik zu hohen Ehren und Ansehen
brachten und sie. gleich der Chemie in den
Dienst der Technik und der ökonomischen Ent-
wicklung stellten.

Nachdem James Watt gegen Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts die Dampfmaschine er-
funden hatte, schuf Fulton zu Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts das erste Dampf-
schiff und baute Stephenson die erste Eisen-
bahn. Beide legten so den Grund zu jener un-
geheuren Entwicklung der Verkehrsmittel, durch
die die entferntesten Theile der Erde heute uns
näher und bekannter sind, als es dem Klein-
bürger am Ausgang des Mittelalters die eigene
Heimath war.

Und immer weiter strebte der zum Denken
und Forschen angeregte menschliche Geist. Hatte
Lamarque die alte Schöpfungstheorie durch
seine naturgeschichtlichen und naturwissenschaft-
lichen Studien in ihren Fundamente» erschüt-
tert, so baute jetzt Goethe energisch darauf
weiter, bis endlich in Charles Darwin der
große Revolutionär erstand, der unwiderleglich
nachwies, daß zwischen dem höchsten und dem
niedrigsten Lebewesen nur ein gradweiser Unter-
schied besteht und daß alle dieselbe Urquelle ihrer
Existenz besitzen. Er stabilirte in seiner Des-
zendenztheorie jenen logischen Wunderbau, der
den Metaphysikern aller Grade und am meisten

ihren unlogischsten Vettern, der Geistlichkeit
jeder Observanz, ihre Schöpfungs- und Mensch-
werdungsrezepte verdarb. Bedurfte es noch
einer Hilfe, um dieses Zerstörungswerk zu
vollenden, so lieferte sie die seit Galilei, Laplace
und Kant sich immer zuverlässiger gestaltende
Astronomie und Kosmogenie, unterstützt durch die
Philosophie, wie sie namentlich durch Ludwig
Fenerbach ihren populärsten Ausdruck fand.

Die moderne ökonomische Entwicklung in
den verschiedenen Kulturstaaten drängte eines-
theils zum Zusammenschluß des Gleichartigen
(der Nationalitäten), anvererseits zur Aus-
dehnung der Macht über fremde Länder und
Gebiete, zur Eroberung neuer Absatzmärkte
(Handels- und Kolonialpolitik). Damit gewann
der Militarismus zu Wasser und zu Lande
eine noch vor Kurzem für unmöglich gehaltene
Ausdehnung, und damit wuchsen die Opfer
an Menschen, Geld und Gut, die namentlich
die große Volksmasse zu bringen hat. Armeen
und Flotten von einer Stärke und Größe,
wie sie nur ein Zeitalter schaffen kann, das
über große Menschenmassen und sehr be-
deutende finanzielle und technologische Hilfs-
quellen verfügt, wurden geschaffen und bildeten
die Hilfsmittel für jene Ausdehnungspolitik,
die als Imperialismus (Weltpolitik) sich uns
am Schlüsse des neunzehnten und am Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt, aber
auch alle Vorbedingungen zu einer großen
Katastrophe, einem Weltkrieg in sich schließt,
zu einem Weltbrand, in dem, wenn er aus-
brechen würde, die bürgerliche Welt ihren Unter-
gang fände.

Die Erben, die auf den Antritt ihres Erbes
sehnsüchtig warten, das die bürgerliche Welt
ihnen hinterläßt, sind in ungezählter Schaar
vorhanden, es sind die modernen Proletarier.
Wie eine Generation die andere zeugt, wie
 
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